# taz.de -- Bewegungstermine in Berlin: Erinnern heißt immer noch kämpfen | |
> Vor 85 Jahren wütete der Nazimob bei den Novemberpogromen, heute | |
> grassiert der Antisemitismus erneut. Deshalb am 9. November raus auf die | |
> Straße! | |
Bild: Ist so schwer zu kapieren, was das bedeutet? | |
Die staatlich orchestrierte Pogromnacht am 9. November 1938 stellte einen | |
Wendepunkt in der nationalsozialistischen Judenverfolgung dar: Aus einer | |
Politik der systematischen Diskriminierung wurde eine Politik der | |
Vernichtung. Unter der Führung der SA wurden unzählige Wohnungen und | |
Geschäfte geplündert, Friedhöfe und Synagogen zerstört und in Brand | |
gesetzt. Jüdische Menschen wurden durch die Straßen getrieben, sie wurden | |
gedemütigt, geschlagen, vergewaltigt, getötet. In einer Nacht ermordeten | |
die Nazibanden Hunderte Menschen. | |
In der antifaschistischen Linken sagt man an Tagen wie dem 9. November | |
gerne Sätze wie „Erinnern heißt Kämpfen!“. Damit ist gemeint, dass es ke… | |
historisierte Erinnerungskultur geben darf, weil das Gedenken mit dem | |
antifaschistischen Kampf heute verbunden werden muss. Und der bleibt bitter | |
notwendig in einem Deutschland, [1][in dem der Judenhass wieder grassiert], | |
während die bürgerliche Mitte einen glühenden Nationalstolz aus ihrer | |
Vergangenheitsbewältigung zieht. | |
Wie sehr sich die Deutschen inzwischen von aller Verantwortung befreit | |
sehen, zeigt, dass es selbst der Freie Wähler-Chef Aiwanger wagt, [2][das | |
deutsche Antisemitismusproblem auf migrantisierte Menschen zu schieben]. | |
Ja, genau der Aiwanger, der einst Flugblätter besaß, auf den | |
„Vaterlandsverrätern“ ein „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ | |
gewünscht wurde, verkündet heute ohne rot zu werden: Die Ausländer sind das | |
Problem. | |
## Erinnerungskultur als Nationalstolz | |
Und die Entgleisungen des Hubert Aiwanger stehen nicht alleine. Der | |
FDP-Bundestagsabgeordnete Max Mordhorst hat kürzlich [3][völlig ungeniert | |
zwischen „Deutschengrundrechten“ und „Jedermannsgrundrechten“] | |
unterschieden und über ein „politisches Betätigungsverbot für | |
Nicht-EU-Ausländer“ nachgedacht – im Namen des Kampfes gegen | |
Antisemitismus. Im selben Atemzug fordert Ministerpräsident Söder (CSU) | |
[4][Ausbürgerungen von durch ihn migrantisierten Menschen], die er offenbar | |
nicht wirklich als deutsch ansieht – womit er seinen völkischen | |
Volksbegriff entblößt. | |
Überraschen kann all das nicht. Die bürgerliche Gesellschaft war schon | |
immer ein Chamäleon. Sie passt sich ihrer Umgebung an, ihre | |
Politiker:innen sagen, was sie denken, was alle hören wollen, | |
zumindest alle, die zählen. Und so reichen offenbar [5][Umfragewerte von 20 | |
Prozent für eine völkisch-nationalistische Partei], damit in Deutschland | |
quer durch das Parteienspektrum (mit Ausnahme der Linkspartei) auf die | |
Frage, was 85 Jahre nach den Novemberpogromen zu tun ist, der einhellige | |
Chor ertönt: Abschieben, abschieben, abschieben! | |
In diesem Kontext muss der Satz des Schriftstellers und | |
Holocaustüberlebenden Primo Levi eiskaltes Schauern auslösen: „Es ist | |
geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“ Dieser Satz ist auch das | |
Motto der diesjährigen Demonstration des [6][Antifaschistischen Bündnisses | |
zum Gedenken an die Novemberpogrome], dem auch der VVN-BdA angehört. | |
Auftakt ist am Donnerstag (9. 11.) um 18 Uhr am [7][Mahnmal | |
Levetzovstraße], von dort zieht die Demo zum [8][Deportationsmahnmal an der | |
Pulitzbrücke]. | |
## Gegen jeden Antisemitismus! | |
Völlig zu Recht [9][rufen die Veranstalter:innen dazu auf, „jede Form | |
des deutschen “Wirs“ anzugreifen“]. Ihr Aufruf richtet sich aber auch geg… | |
den Antisemitismus von Teilen der Linken, die sich ausgerechnet mit den | |
Massakern der islamistischen Mörderbande Hamas solidarisieren – [10][obwohl | |
diese in ihrer genozidalen Absicht explizit auf den Holocaust Bezug | |
nehmen]. | |
Diese Liebäugelei mancher Antiimps mit Islamist:innen ist nicht nur ein | |
Schlag ins Gesicht aller Jüdinnen und Juden weltweit, sondern auch in das | |
all jener, die vor dem Islamismus nach Deutschland geflohen sind. Wenn | |
kürzlich [11][wie in Essen] Islamist:innen geschlechtergetrennt | |
marschieren und das Kalifat fordern, muss ihnen der antifaschistische Kampf | |
ebenso gelten, wie den deutschen Neonazis und Rassisten. | |
Es muss dieser Tage klar gesagt werden: Der Staat Israel bleibt als | |
Rückzugsort und Sicherheitsgarant für Jüdinnen und Juden weltweit eine | |
nicht zur Diskussion stehende antifaschistische Notwendigkeit – was aber | |
wiederum keine Solidarität mit den [12][Massakern der rechtsradikalen | |
israelischen Regierung in Gaza voraussetzt]. Denn genau diese unbeschränkte | |
Solidarität ist ja der Kern der verdrehten Ideologie der deutschen | |
Staatsräson, die versucht, sich durch eine Überidentifikation mit Israel | |
von der Vergangenheit freizusprechen – wodurch dann der eigene Rassismus | |
legitimiert wird. | |
## Heraus zum 9. November! | |
Eine schöne Tradition für alle, die es ernst meinen mit der Verantwortung | |
gegenüber der deutschen Nazigeschichte, ist das Stolpersteinputzen des | |
Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Am 9. November finden solche Aktionen | |
jeweils um 17 Uhr in Mitte, Steglitz und Zehlendorf statt – [13][weitere | |
Informationen gibt es hier.] Ebenfalls am 9. November veranstaltet die | |
Initiative [14][“Wem gehört der Laskerkiez?“] eine ähnliche Aktion in | |
Friedrichshain ([15][18 Uhr, Treffpunkt Corinthstraße 50]). | |
Um 15 Uhr rufen [16][VVN-BdA] und die [17][North East Antifa] auch dazu | |
auf, [18][vor den Toren des Jüdischen Friedhofs (Herbert-Baum-Straße 45) | |
Blumen niederzulegen]. Es wird auch Redebeiträge der antifaschistischen | |
Organisationen geben. | |
Zeitgleich zur Demonstration in Moabit beginnt am Adenauerplatz um 18 Uhr | |
ein Gedenkspaziergang der [19][Feministischen Antifaschistischen | |
Jugendorganisation Charlottenburg (F_AJOC)]. Das Motto: „In Gedenken an die | |
Opfer führen wir den Kampf fort, bis der Faschismus in seinen Wurzeln | |
vernichtet ist.“ Dieser Verweis auf den Schwur von Buchenwald ist | |
schließlich ein wichtiger Hinweis darauf, dass der Faschismus letztlich nur | |
über die Beseitigung der strukturellen Basis, die ihn ermöglicht, besiegt | |
werden kann. Denn in Gaza wie in Deutschland gilt: Wer bessere Menschen | |
will, muss für eine gerechtere Gesellschaft sorgen. | |
8 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5968473 | |
[2] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177392.nahost-konflikt-ausgerechnet-aiwa… | |
[3] https://twitter.com/maxmordhorst/status/1721106786302734339 | |
[4] https://twitter.com/Markus_Soeder/status/1721476043591053746 | |
[5] https://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm | |
[6] https://9november.blackblogs.org/ | |
[7] https://www.bpb.de/themen/holocaust/erinnerungsorte/503306/mahnmal-levetzow… | |
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Deportationsmahnmal_Putlitzbr%C3%BCcke | |
[9] https://asanb.noblogs.org/?event=9-november-2023-gedenken-an-die-novemberpo… | |
[10] /Essay-zum-Angriff-der-Hamas/!5967960 | |
[11] /-Nachrichten-im-Nahost-Krieg-/!5970788 | |
[12] /-Nachrichten-im-Nahost-Krieg-/!5971854 | |
[13] https://berlin.dgb.de/themen/++co++5b2c349c-19f6-11eb-be07-001a4a160123 | |
[14] https://laskerkiez.noblogs.org/ | |
[15] https://laskerkiez.noblogs.org/post/2023/11/03/stolpersteinrundgang-im-las… | |
[16] https://vvn-bda.de/ | |
[17] https://antifa-nordost.org/ | |
[18] https://asanb.noblogs.org/?event=niemals-vergessen-gedenken-an-die-novembe… | |
[19] https://www.instagram.com/f_ajoc_berlin/ | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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