# taz.de -- Bewegungstermine in Berlin: Gegen alle Menschenfeindlichkeit | |
> Manche schweigen über die Massaker der Hamas, andere wollen über zivile | |
> Opfer in Gaza nicht reden. Ein entblößender Mangel an moralischer | |
> Integrität. | |
Bild: Mit Islamisten für die Befreiung Palästinas protestieren ist ein Widers… | |
Es gibt Kolumnen, die zu Schreiben großen Spaß macht. Etwa, weil sie ein | |
Thema behandeln, über das man schon immer etwas öffentlich sagen wollte. | |
Oder weil es um Veranstaltungen geht, denen Aufmerksamkeit zu verschaffen | |
einem am Herzen liegt. Das sind die schönen Momente in diesem Job, der ja | |
auch ein großes Privileg ist. Überhaupt öffentlich sprechen zu können, von | |
Menschen gehört zu werden – im ungleichen, aber umkämpften Terrain der | |
bürgerlichen Öffentlichkeit ist das eine Form von Macht, die zur | |
Unterstützung progressiver Zwecke genutzt werden sollte. | |
Genau dies, die Unterstützung progressiver Zwecke, ist der Sinn [1][dieser | |
Kolumne]. Jede Woche verbreiten wir hier Termine aus den sozialen | |
Bewegungen Berlins und Umgebung. Die Kolumne webt die Ankündigung | |
verschiedener Bewegungstermine in eine narrative Überstruktur ein, die | |
einen bestimmten gesellschaftlichen Missstand thematisiert. Natürlich gilt | |
es dabei, möglichst nah am Zeitgeschehen, das heißt aktuell zu bleiben. Und | |
Aktualität bedeutet, möglichst auf die Themen einzugehen, die sich in | |
bestimmten Situationen einfach aufdrängen. | |
Das sich derzeit aufdrängende Thema ist natürlich der Nahostkonflikt, | |
genauer: dessen jüngste Eskalation nach den schreckenserregenden Massakern | |
der Hamas und der darauf folgenden israelischen Bombardierung Gazas mit | |
Tausenden Toten. Widerlich war es anzusehen, wie sich die Rechten in | |
Deutschland in einem durchschaubaren Manöver [2][zu Vorkämpfer:innen | |
gegen den Antisemitismus aufspielten], indem sie massiv antimuslimischen | |
Rassismus bedienen. | |
## Ein ohrenbetäubendes Schweigen | |
Genug Anlässe, einen wütenden Text zu schreiben, gibt es also. Wo aber sind | |
die Demotermine, die anzukündigen eine Unterstützung progressiver Zwecke | |
wäre? Es sollte Mut machen, an diese Stelle Veranstaltungen ankündigen zu | |
können, die sich gegen den Krieg und die Terrorherrschaft der Hamas, | |
[3][gegen Netanjahu und für die Befreiung aller verschleppten Geiseln] | |
einsetzen. Es sollte stolz machen, wie konsequent und mutig sich das eigene | |
politische Lager in diesen schlimmen Zeiten gegen die Besatzung und die | |
Bomben auf Gaza, aber auch gegen den in Deutschland und weltweit | |
grassierenden mörderischen Judenhass stellt. | |
Doch diese Veranstaltungen, [4][diese politische Linke, gibt es nicht.] | |
Stattdessen ist auf allen Seiten das Schweigen über die zivilen Opfer der | |
jeweils anderen ohrenbetäubend laut. | |
Auch die nächste große pro-palästinensische Demonstration, die [5][am | |
Samstag (4. 11.) um 14 Uhr am Neptunbrunnen] stattfinden soll, schafft es | |
nicht, im Aufruf die am 7. Oktober für ihr Jüdischsein getöteten Menschen | |
zu erwähnen – obwohl auch jüdische Gruppen zu den Initiator:innen | |
gehören. Und auch Islamist:innen wird im Aufruf nicht eindeutig klar | |
gemacht, dass sie auf dem Protest nichts zu suchen haben. Dabei ist mit | |
Islamisten für die Befreiung Palästinas zu demonstrieren ähnlich dämlich, | |
wie mit Nazis für Redefreiheit auf die Straße zu gehen. | |
## Antisemitismus ist kein Importprodukt | |
Warum schaffen es linke pro-palästinensische Gruppen nicht, neben der | |
israelischen Regierung auch der Hamas den Kampf anzusagen – oder wenigstens | |
die niedergemetzelten Zivilist:innen in Israel zu betrauern? Warum wird | |
auf Kundgebungen in Solidarität mit Israel, die derzeit ohnehin sehr selten | |
stattfinden und noch seltener von Linken organisiert werden, die | |
bedingungslose Unterstützung der israelischen Regierung zur deutschen | |
Staatsräson erklärt? | |
Dennoch: Die Kritik am Umgang der deutschen Polizei mit | |
Palästinenser:innen, deren Leid, Trauer und Wut öffentlich ausgedrückt | |
werden dürfen muss, ist ein berechtigtes Anliegen. Zu begrüßen ist deshalb, | |
dass solidarische Anwält:innen [6][von Repression betroffenen | |
Jugendlichen kostenlos Rechtsberatung anbieten]. Derzeit jeden Freitag (3. | |
& 10. 11., jeweils 17 – 19 Uhr) helfen die Jurist:innen in der Roten | |
Lilly (Emser Str. 114) auch bei anderen Problemen mit dem Migrationsrecht. | |
Um sich aufzuraffen muss sich die politische Linke vor allem von der | |
Verwirrung befreien, dass Antirassismus und der Kampf gegen Antisemitismus | |
in einem Widerspruch zueinander stehen würden. Geschaffen wird dieses | |
Denken von Rassisten wie Friedrich Merz, der mit Forderungen wie | |
[7][Gesinnungstests bei Einbürgerungen] nur seine eigene | |
Geschichtsvergessenheit entblößt. Merz wäre gut mit einer Auffrischung | |
beraten, warum Antisemitismus eben kein „importiertes“ Phänomen ist – ein | |
Wort, das, nebenbei bemerkt, migrierende Menschen und ihre Überzeugungen | |
mit Waren, also mit Dingen, gleichsetzt. | |
## Nie wieder! | |
Eine Möglichkeit hierfür bietet [8][der vom VVN-BdA organisierte | |
Stadtrundgang] zum antisemitischen Pogrom im Scheunenviertel, nördlich des | |
Alexanderplatzes, vor 100 Jahren. Schon 1923 entludt sich hier der | |
gewaltvolle deutsche Antisemitismus. Für die Teilnahme am Spaziergang zu | |
zentralen Orten des Pogroms mit einem Historiker des Jüdischen Museums | |
bittet der VVN-BdA um eine Spende von fünf Euro (5. 11., 12 Uhr, Treffpunkt | |
Rosenthaler Platz Ecke Weinbergsweg). Am Montag (6. 11., 18 Uhr) findet zu | |
dem Thema auch ein Vortrag in der Zentralen Landesbibliothek (Breite Straße | |
30-36) statt. | |
Wer es anders als Merz ernst meint mit dem Kampf gegen Antisemitismus, | |
sollte auch an der [9][Mahnwache gegen Antisemitismus] vorbeischauen, die | |
bis zum 9. November jeden Tag an der Brunnenstraße Ecke Veteranenstraße | |
stattfindet. In der Brunnenstraße liegt die Synagoge der Gemeinde Kahal | |
Adass Jisroel e.V., auf die [10][am 17. Oktober ein Brandanschlag verübt | |
wurde]. Für alle Linken sollte klar sein: Ein solches Verbrechen darf in | |
der Stadt, in der einst der Holocaust geplant wurde, nie wieder geschehen. | |
1 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Kolumne-Bewegung/!t5685793 | |
[2] /CDU-Vorschlag-zu-Demokratiefoerdergesetz/!5966750 | |
[3] /Kein-Austausch-mit-Geiseln-in-Gaza/!5966701 | |
[4] /Linker-Antisemitismus/!5966630 | |
[5] https://stressfaktor.squat.net/node/299093 | |
[6] https://stressfaktor.squat.net/node/298811 | |
[7] /Scharfe-Toene-zu-Migration/!5965251 | |
[8] https://berlin-mitte.vvn-bda.de/2023/10/19/veranstaltungen-zum-pogrom-im-sc… | |
[9] http://mahnwachen-gegen-antisemitismus.org/ | |
[10] /Deutschland-und-der-Krieg-in-Gaza/!5967545 | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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