| # taz.de -- Nachtzug von Stuttgart nach Zagreb: Ein gleitendes Zimmer für sechs | |
| > Im 6er-Liegeabteil im Nachtzug nach Kroatien lässt sich Virginia Woolfs | |
| > Wunsch nach einem Raum für sich allein verstehen. Bequem ist es trotzdem. | |
| Bild: Nachtzug am hauptbahnhof von Stuttgart | |
| Zagreb taz | Die schwäbische Autostadt kann auch Nachtzug: Jeden Abend | |
| startet hier ein EuroNight, der gut 14 Stunden von Stuttgart nach Zagreb | |
| braucht. [1][Die österreichische Bahn] kooperiert mit der kroatischen. Auch | |
| nach Budapest, Wien, Venedig und Rijeka kommen Reisende von Stuttgart aus | |
| über Nacht. | |
| Um 20.29 Uhr setzt sich meine Bahn mit ihren Schlaf-, Liege und | |
| Sitzabteilen in Bewegung. Die Ticketpreise variieren. Im Sitzabteil gibt es | |
| sie ab 30 Euro, im Liegewagen inklusive kleinem Frühstück ab 50 Euro, einen | |
| Platz im Schlafwagen gibt es – ebenfalls mit Frühstück – ab 70 Euro. | |
| Das kroatische „heilig Blechle“, wie es hier heißt, ist zwar in die Jahre | |
| gekommen, aber sauber und funktionstüchtig. Und das gilt auch für die | |
| Toiletten! Auf den Liegen des 6er-Abteils warten weiße Bettlaken darauf, | |
| von den Reisenden selbst ordentlich gespannt zu werden. Stauraum für Gepäck | |
| gibt es unter und zwischen den Liegen sowie über dem Gang. Mit einem | |
| freundlichen Kauderwelsch aus kroatischen, englischen und deutschen Brocken | |
| kontrolliert der Schaffner die Tickets, erklärt, wie man die Abteile über | |
| Nacht zuschließt und wünscht eine gute Nacht. | |
| Das Liegeabteil ist so groß wie ein herkömmliches. Statt den Sitzen rechts | |
| und links sind jeweils drei Pritschen übereinander angebracht. Wie zwei | |
| 3er-Stockbetten, nur dass sie an der Wand befestigt sind. Sitzen kann man | |
| nicht, wenn alle sechs Liegen ausgeklappt sind, und so rolle ich mich auf | |
| meiner – der untersten – zusammen. Die Fahrt möchte ich nutzen, um endlich | |
| mal wieder zu lesen. | |
| ## 4 Quadratmeter, 6 Leute | |
| Als ich meine Reiselektüren aus dem Rucksack krame, muss ich lachen. In der | |
| Eile habe ich einfach die obersten beiden Bücher auf meinem Nachtisch | |
| eingepackt. Das eine ist doch tatsächlich [2][Virginia Woolfs | |
| feministischer Essay von 1929 „A Room of One’s One“], auf Deutsch: ein | |
| Zimmer für sich allein oder ein eigenes Zimmer. Wie ironisch! Hatte der | |
| Schaffner doch vor wenigen Minuten erst angekündigt, dass in Ulm und | |
| Rosenheim noch Gäste zusteigen, sodass sich das Abteil wohl füllt – ergo: | |
| vier Quadratmeter, sechs Leute. | |
| Was würde Virginia Woolf wohl dazu sagen, frage ich mich und blättere das | |
| dünne Buch auf. Die Autorin entführt mich an englische Eliteuniversitäten | |
| und in das British Museum. Sie sucht Antworten darauf, warum Frauen nicht | |
| dieselbe Bildung bekommen wie Männer, warum Literatur über Frauen | |
| hauptsächlich von Männern verfasst ist, was Frauen brauchen, um große | |
| Literatur zu erschaffen, und [3][welche sozialen und ökonomischen Hürden | |
| sie nehmen müssen, um als Schriftstellerin groß rauszukommen]. Sie | |
| argumentiert, dass Frauen eigenes Geld und ein eigenes Zimmer brauchen, um | |
| zu schreiben. Sprich finanzielle und geistige Freiheit, die ihnen oft | |
| weniger als Männern zur Verfügung steht. | |
| ## Plastik statt Holz | |
| Auch wenn ich mir Nachtzüge zu Woolfs Zeit irgendwie edler ausmale, mit | |
| Holz und rotem Samtbezug, Getränken in Glas statt Plastik, ist das, was sie | |
| beschreibt, aktuell. Schon nach dem ersten Kapitel döse ich langsam weg. | |
| Nicht weil die Lektüre langweilig ist, sondern weil der Zug so angenehm | |
| über die Schienen gleitet und mich in den Schlaf schaukelt. Bis Rosenheim | |
| bin ich eingeschlafen und wache nur kurz auf, als zwei Mitreisende leise | |
| ins Abteil kommen. | |
| Die Nacht verläuft angenehm ruhig. Frühstück gibt es am Morgen direkt ans | |
| Bett. Kein Highlight, aber völlig ausreichend: abgepacktes Schoko-Croissant | |
| und Kaffee oder Tee, leider im Pappbecher. | |
| Die Strecke führt [4][entlang des Flusses Save]. Wir halten in Ljubljana. | |
| Dann geht es über die kroatische Grenze. Bei der Ticketkontrolle am Abend | |
| hatte der Schaffner die Papiertickets eingesammelt. Jetzt am Morgen weckt | |
| er die Leute pünktlich mit seinem freundlichen Ton, damit sie rechtzeitig | |
| aussteigen und gibt ihnen die Tickets zurück. Mein Ziel Zagreb erreichen | |
| wir pünktlich um etwa viertel vor elf. | |
| 23 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mareike Andert | |
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