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# taz.de -- Aufklärung an Schulen: Reden über den Nahen Osten
> Shai ist jüdisch, Jouanna palästinensisch. Weil der Nahostkonflikt auch
> in Schulen stattfindet, besuchen sie gemeinsam Klassen. Wie läuft so was
> ab?
Bild: Freie Gespräche im Schulunterricht sollen für Aufklärung sorgen
Während ein paar Schüler*innen bei Nieselregen eine Raucherpause im
Dämmerlicht einlegen, trifft sich Shai mit den Organisator*innen vor
dem Schulleitungsbüro der Tages- und Abendschule in Köln-Mülheim. Warmes
Licht durchflutet die Mensa, in der sich währenddessen Jouanna
freundschaftlich mit der Mensafrau unterhält, die ebenfalls Arabisch
spricht.
Vor dem Büro der Schulleitung gibt es ein kurzes Check-up: Haben Shai und
Jouanna alles, was sie für das Gespräch mit den Schüler*innen benötigen?
Man ringt um die passenden Worte, man möchte einen überschwänglichen
Smalltalk vermeiden. Die Stimmung ist leicht angespannt, das Lehrpersonal
hat augenscheinlich Respekt vor Shais Arbeit als jüdischer Aktivist.
Ein Kollege fragt, wie die Gefahrenlage für beide bei den vorherigen
Trialogen war. Shai lockert die leichte Anspannung auf, indem er witzelt:
„Jouanna hat immer Boxhandschuhe dabei. Und wenn jemand sie blöd anmachen
sollte, boxt sie zu.“ Es folgt direkt ein „Nein, Spaß. Natürlich nicht.“
Das sei erst ihr zweiter Besuch im Rahmen ihrer Trialog-Reihe an Schulen in
ganz Deutschland, so Shai.
## Helal oder koscher
Shai und Jouanna sind dankbar für die Gastfreundschaft der Schule, der Tas.
Es trudeln die Schüler*innen zweier Klassen der Lehrerin W. ein. Es
stoßen auch neugierige Freiwillige aus anderen Klassen dazu. Die Mensa
füllt sich mit circa 35 Schüler*innen, die an der Tas über den zweiten
Bildungsweg ihr Fachabitur nachholen. Jouanna reicht eine Tüte mit bunten
Süßigkeiten rum: „Sind helal oder koscher. So, wie ihr mögt.“
Während die Schüler*innen Platz nehmen, werden Shai und Jouanna mit
frisch gebackener vegetarischer Pizza direkt aus der Mensa empfangen.
„Eigentlich mag ich das gar nicht, vor anderen Menschen zu essen, die nicht
mit mir essen“, raunt sie in die vollbesetzte Mensa. „Wollt ihr auch ein
Stück, nehmt euch ruhig“, trägt Jouanna nach. Die Schüler*innen lehnen
schmunzelnd ab.
Einleitend betonen Jouanna und Shai, dass sie über Gefühle und Emotionen
bezüglich des wiederaufgelebten Nahostkrieges reden wollen. Ihr Ziel für
diesen Abend ist, einen „braver space“ zu schaffen, einen wertfreien Raum,
in dem die Schüler*innen sich ermutigt fühlen, ihre Gefühle und
Emotionen mitzuteilen. Nachrichten- und Social-Media-Apps überfluten die
Schüler*innen mit sich überschlagenden Zahlen und [1][Bildern aus Gaza].
Es vergehen keine fünf Minuten, da beziehen sich vereinzelt
Schüler*innen auf einen historischen Ursprung des Nahostkonflikts. Sie
wollen die „israelische Besatzung seit über 40 Jahren“ in den
palästinensischen Gebieten, den Ursprung der Hamas und das antisemitisch
motivierte terroristische Attentat vom 7. Oktober rational mit historischen
Fakten rekonstruieren und ergründen. Wie konnte es zum 7. Oktober kommen?
## Wie konnte es dazu kommen?
Dass es dafür einen ausgiebigen Faktencheck benötige, geben Shai und
Jouanna schnell zu erkennen und schreiten bedacht ein: „Wir können nicht
über Daten und Fakten reden. Das können wir nicht alles verifizieren.“ Das
würde den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen, denn es müsste jeder
historische Einwurf geprüft werden. Jouanna erzählt, dass sie biografisch
in den Nahostkonflikt involviert ist. Sie ist Deutsch-Palästinenserin, 1948
sind ihre Großeltern aus Palästina geflohen. Aufgewachsen ist sie mit ihren
Eltern in einem [2][Flüchtlingslager] im Südlibanon.
Die erste Frage an die Schüler*innen lautet: „Was fällt dir ein, wenn
du Israel und Palästina hörst?“ Sie sammeln Schlagworte wie „Hass“,
„Menschenrechtsverletzung“, „Krieg und Ungerechtigkeit“. Jouanna nimmt …
Schüler*innen nacheinander dran, manche von ihnen sind irritiert, ob sie
oder die Sitznachbarn gemeint sind. „Entschuldigt bitte. Ich schiele ein
wenig, das habe ich vom Krieg mitbekommen.“
Die Schüler*innen schweifen schnell von der Frage ab, wollen über die
täglich neuen Meldungen des Nahostkrieges sprechen. Sie möchten ihre
Meinungen kundtun, darunter sowohl differenzierte als auch ideologisch
gefärbte. Ein Schüler, der schnell bekennt, dass er orthodox-christlich
ist, wundert sich: „Warum wird jeder Angriff auf jüdische Menschen als
antisemitisch gewertet? [3][Wenn ein Muslim angegriffen wird, spricht man
ja auch nicht von einem antimuslimischen Angriff in den Medien.“]
Zwei Schüler*innen aus derselben Reihe schauen sich irritiert an, der
Raum füllt sich mit Stille. Manche ziehen ihre Augenbraune nach oben. Shai
hakt nach und bittet den Schüler, das zu erklären. Der Schüler verhaspelt
sich, wiederholt seinen Gedanken, den er aber nicht präzise formulieren
kann. „Vielleicht fragt er sich, warum Angriffe auf muslimische Menschen
nicht genauso schlimm sind wie auf jüdische?“, wirft ein Schüler aus
derselben Reihe ein. „Hmm, ich verstehe dich leider immer noch nicht genau.
Wir können aber gerne später auf die Frage zurückkommen.“
## Die Identität verstecken
Shai sitzt auf einem Hocker und ist der Part des Duos, der sich mehr
zurückhält. Aus einer Beobachterperspektive schaut er interessiert und
grübelnd den Schüler*innen bei ihren Wortmeldungen zu.
Dann fragt er doch etwas: „Kennt ihr eigentlich jüdische Menschen
persönlich?“ Ein Schüler, der seit Beginn aufrecht sitzt und gespannt
zuhört, meldet sich hastig: „Das habe ich mich oft schon gefragt.
Eigentlich weiß ich immer von meinen Freunden, welchen und ob sie einen
Migrationshintergrund haben und an was sie glauben. Ich denke, dass
jüdische Menschen ihre Identität versteckt halten. Das ist sehr traurig,
dass sie das Gefühl haben, das machen zu müssen.“ Etwas bedrückt lehnt er
sich in seinen Stuhl zurück. Schweigendes zustimmendes Nicken in den
Reihen.
Jouanna steht, sucht den direkten Blickkontakt zu einzelnen Schüler*innen.
Ein anderer Schüler reagiert auf die vorige Wortmeldung: „Es gibt ja auch
muslimische Menschen, die eine Takke tragen, die optisch einer Kippa
ähnelt. Aber man sieht eher selten jüdische Menschen auf den Straßen Kippas
tragen.“
Jouanna stellt die Anschlussfrage: „Warum glaubst du, dass du wenige
jüdische Menschen auf den Straßen siehst, die eine Kippa tragen?“ Der
Schüler entgegnet ihr: „Sie werden sonst bespuckt werden und haben Angst
vor Gewaltangriffen. Jouanna antwortet: „Genau.“ Shai kontextualisiert den
Dialog von Jouanna und den Schüler*innen: [4][„Köln hat eine große jüdisc…
Community.“]
## Angst vor Gewaltangriffen
In Bezug auf die muslimische Kopfbedeckung Takke wirft Shai außerdem in den
Raum, dass die AfD den Nahostkrieg für ihre antimuslimische Agenda
instrumentalisiert. AfD-Politiker seien genauso antisemitische Demagogen.
Es gebe nicht nur antisemitische Stimmung in Deutschland, sondern auch eine
antimuslimische, das dürfe nicht unterschätzt werden.
„Ihr kennt bestimmt das [5][Spiegel-Cover mit Olaf Scholz] mit der
Aufschrift ‚Wir müssen endlich im großen Stil abschieben‘, oder?“ Ein
Schüler aus der vorletzten Reihe: „Das hatte die NPD auch auf ihren
Plakaten.“ Einige drehen sich lächelnd zu ihm um. Dass es sich in
Deutschland um eine rassistische Migrationspolitik handelt, da sind sich
alle einig.
Shai und Jouanna zeigen, wie sehr der Krieg sie emotional angreift. Sie
sind selbst Zielgruppe sowohl antimuslimischer als auch antisemitischer
Anfeindungen. Jouanna gibt zu erkennen: „Wir sind keine Terroristen. Wir
sind nicht alle Monster. Wir haben auch das Recht, unsere Gefühle
mitzuteilen.“ Ihr Ton ist souverän. Sie und Shai bleiben standhaft.
## Antisemitische und antimuslimische Stimmung
Während Shai sich wieder kurz aus der Diskussion zurückzieht, klärt Jouanna
die Schüler*innen über aktuelle Entwicklungen in der palästinensischen
Politik auf. Die Fatah ist eine politische Partei in den Palästinensischen
Autonomiegebieten Gaza und Westbank (Westjordanland).
„Die [6][Fatah-Politiker*innen] sollten das palästinensische Volk
vertreten. Mahmud Abbas, ein führender Politiker der Fatah-Bewegung, hat
keinen Rückhalt unter jungen Palästinenser*inner“, so Jouanna. Shai
ergänzt, dass sich Palästinenser*innen in der Westbank nicht
repräsentiert fühlen von Abbas.
Den Schüler*innen vertraut er an, dass seine Familie sehr rechts ist.
Als Shai mit Menschenrechtsaktivist*innen in der Westbank gesprochen
hat, hätte das ihn zum Nachdenken gebracht. Er hat die politische
Einstellung seiner Eltern hinterfragt. Das hätte ihn zu seinem Aktivismus
bewegt.
„Kurzer Check-up“, unterbricht Shai den Gesprächsfluss. „Meint ihr, ihr
könnt mit uns sprechen? Ihr könnt gerne eure Gedanken uns ehrlich
mitteilen, sowohl positive als auch negative. Alles cool.“ Einige
Schüler*innen recken ihren Daumen nach oben.
## Gedanken ehrlich mitteilen
Manche kramen schon in ihren Rucksäcken und ziehen sich unauffällig die
Jacken an. Die Uhr tickt, bald beginnt die nächste Unterrichtseinheit.
Leherin W. ruft Shai und Jouanna aus der letzten Reihe zu, dass die meisten
Schüler*innen langsam zur nächsten Stunde müssen.
Kurz vor Schluss wünschen sich Shai und Jouanna noch eine kurze
Feedbackrunde. Die erste Schülerin meldet sich: „Es tut gut, seine Gedanken
und Gefühle in großer Runde mitzuteilen.“ Einige schließen sich dieser
Meinung an. Shai und Jouanna sind zufrieden mit dem Verlauf.
3 Nov 2023
## LINKS
[1] /Nahost-Konflikt/!5963808
[2] /Kampf-in-Gefluechtetenlager-im-Libanon/!5947837
[3] /Deutscher-Blick-auf-Israel-und-Palaestina/!5963976
[4] /Juedisches-Leben-in-Koeln/!5748613
[5] /Olaf-Scholz-Aeusserungen-zur-Migration/!5965141
[6] /Gruende-fuer-Angriff-auf-Israel/!5962210
## AUTOREN
Vivien Mirzai
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