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# taz.de -- Graphic Novel „Genossin Kuckuck“: Traum und Trauma
> Zum Erscheinen ihrer autobiografischen Bilderzählung „Genossin Kuckuck“
> wird Anke Feuchtenberger mehrfach Thema auf dem Comicfestival Hamburg.
Bild: Unschöne Kindheitserinnerungen: Szene aus der Bilderzählung „Genossin…
Finster sind die Zeichnungen in „Genossin Kuckuck“. Es scheint unmöglich,
sie restlos zu verstehen, aber umso leichter ist es, sie in aller
Bitterkeit nachzufühlen. Schneckenmenschen schleppen vom Gift vertrocknete
Gefährtinnen ans Wasser. Ein nacktes Mädchen flieht vor den Jungs, und die
Hündin Mona wird die Jagd auf den Keiler verlieren – als sie zurückkommt,
quillt ihr das Gedärm aus dem Bauch.
Anke Feuchtenbergers Comics sind selten leichte Kost, dafür wissen sie wohl
einfach zu viel von der Natur des Menschen, von Gewalt und verdrängter
Sexualität. Doch selbst an ihrem übrigen Werk gemessen wirkt ihr soeben bei
Reprodukt erschienener [1][Band „Genossin Kuckuck“] unerwartet abgründig.
Vielleicht weil die düstere Fabel so was wie Anke Feuchtenbergers
Autobiografie ist.
Über 13 Jahre hat die Künstlerin an diesen rund 450 Seiten gearbeitet und
da es nun endlich fertig ist, fällt die Veröffentlichung zusammen mit einer
ganzen Reihe Feuchtenberger betreffende Angelegenheiten. Im Textem-Verlag
erscheint fast zeitgleich das von Andreas Stuhlmann und Ole Frahm
herausgegebene [2][Buch „Die Königin Vontjanze“], ein umfangreicher
Sammelband wissenschaftlicher Betrachtungen ihres Werks. In Feuchtenbergers
eigenem Mami-Verlag legen 48 ihrer ehemaligen Schüler:innen an der
Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) [3][eine
Anthologie vor].
Außerdem hat das Ende September stattfindende [4][Comicfestival Hamburg]
Feuchtenberger in diesem Jahr die Hauptausstellung gewidmet. Am 27.9. fand
dort ein Symposium über ihre Bedeutung für das grafische Erzählen statt:
also über die längst internationale Strahlkraft ihrer Arbeiten und mehr
oder weniger erfolgreiche Versuche der Comicforschung, ihr vielschichtiges
und die Grenzen der Gattung strapazierendes Werk zu durchdringen.
## Lehrerin der Avantgarde
Auch wenn diese Projekte nicht unabhängig voneinander entstanden sind, ist
das doch ein bemerkenswerter Auftritt für eine Künstlerin, die zwar seit
Jahrzehnten Expert:innen begeistert, mit einem nicht unbedeutenden Teil
ihres Tuns aber doch eher im Hintergrund wirkt: Da ist etwa die HAW, an der
Feuchtenberger seit mehr als 25 Jahren lehrt.
Ihre Schüler:innen haben die Kunstform Comic auf den Kopf gestellt und
zählen heute zu den prägenden Stimmen des Subgenres Graphic Novel, darunter
Birgit Weyhe, Barbara Yelin, Line Hoven, Sascha Hommer oder Simon Schwarz.
Und so dicke das klingen mag: Die Erfolgsgeschichte des deutschsprachigen
Kunstcomics und der heute internationalen Anziehungskraft hiesiger
Hochschulen beginnt nicht nur mit Anke Feuchtenberger, sondern hätte ohne
sie wohl auch nicht stattgefunden.
Dabei stammt Feuchtenberger selbst gar nicht aus der Comic-Bubble. 1963 in
Ostberlin geboren, hat sie ihre Kindheit in der DDR verbracht, ästhetisch
vorgeprägt von tschechischen Märchen und russischer Avantgarde. Das
Zeichnen beginnt sie mit 15 Jahren. Inspiration und Zusammenarbeit findet
sie am Theater, wo sie für freie Gruppen Kostüme herstellt, Puppen und
Plakate entwirft. Studieren wird sie schließlich Bildhauerei und Grafik an
der Kunsthochschule Berlin-Weißensee.
Mit Comic als Gattung kommt Feuchtenberger erst nach dem Mauerfall in
Kontakt. Da ist sie fast 30 und längst über die ersten Schritte hinaus,
entlang von Theaterszenen und -tableaus einen eigenen Stil zeichnenden
Erzählens zu entwickeln. Und auch wenn sie bald Aufmerksamkeit erregt und
ankommt in der Szene, hat sie doch wenig Ambitionen, den Status quo des
West-Comics aufzuholen. Sie hat Wichtigeres vor.
Feuchtenbergers Bildsprache ist fantastisch, metaphorisch und nicht immer
leicht zu verstehen, weil sie nicht so recht trennt zwischen einer
erzählten Handlung und dem, was sie psychologisch mit einem macht. Traum
und Trauma liegen hier sehr dicht beieinander. Feuchtenberger [5][arbeitet
zu Weiblichkeit] und Gewalt – ist immer zutiefst politisch, feministisch,
aber nie so, dass sie die Kunst Engagement oder Aktivismus unterordnen
würde. Was die handwerklichen Genrekonventionen des Comics angeht,
übernimmt sie, was sie gebrauchen kann, und lässt den Rest beiseite.
Bis heute erwächst die Dynamik von Feuchtenbergers Erzählungen nur selten
aus den Figuren, sondern vielmehr aus der Abfolge ihrer Panels. Wie die
Kameraführung in einem sehr ruhigen Film schaut sie sich in Landschaften
um, verharrt bei mitunter surrealen Objekten und Figuren, die sie zwar
außerordentlich präzise tuscht und zeichnet – meist schwarz in schwarz –,
die insgeheim aber eher metaphorischen Verweisen zu folgen scheinen als
physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Sprechblasen verwendet sie sparsam und
selbst in den aufwendig geletterten und poetisch-wortgewaltigen Paratexten
fasst sie sich in der Regel eher kurz.
Es ist nicht jedermanns Geschmack, aber doch unbestreitbar, dass die
typischen HAW-Graphic-Novels einen harten Einschlag zur Illustration und
Bildergeschichte haben und nur wenig vom rasanten Witz frankobelgischer
oder auch amerikanischer Comics. Aber obwohl sich Feuchtenbergers
Handschrift durchaus auch in den Arbeiten ihrer Schüler:innen
wiederfinden lässt, geht sie selbst doch erstaunlich wenig auf in dem von
ihr gestifteten Genre.
Ganz besonders im neuen „Genossin Kuckuck“ steht all das mit gleichem Recht
nebeneinander: ein detailreich durch sechs, sieben, acht Panels gejagter
Schminkvorgang im Badezimmer, scheinbar ewig ruhende Landschaftsbilder und
metaphernsatte Seiten voller Symbole und spielerischem Lettering.
Feuchtenbergers Opus magnum verspricht der PR-Text über „Genossin Kuckuck“.
Damit hat er wohl recht. Nicht nur zeichnerisch und kompositorisch ist der
umfangreiche Band ein Meisterstück. Auch inhaltlich beeindruckt, mit
welcher Empathie und scharfsinniger Beobachtung Feuchtenberger ihr
kindliches Selbst befragt und über allerprivateste Beziehungen den Bogen
schlägt zum großen sozialen Rahmen: zum Leben in der DDR, zu
Kriegstraumata, Missbrauch, russischen Freunden und dem Untergang der
ganzen Sache.
„Genossin Kuckuck“ ist kein angenehmes Buch, es ist wunderschön und quäle…
zugleich, weil es zwar eine konkrete historische Situation beackert, aber
eben doch auch sehr grundsätzlich an den Sollbruchstellen des
Seelenhaushalts herumnagt. Es ist so was wie die Essenz von Anke
Feuchtenbergers Schaffen und wird künftig als der entscheidende
Referenztitel für Fans und Forschung gleichermaßen gelten. Beide dürfen
sich freuen, über das Buch und weil mit dem Hamburger Symposium ein so
umfangreiches wie vielversprechendes Programm bevorsteht.
28 Sep 2023
## LINKS
[1] https://reprodukt.com/products/genossin-kuckuck
[2] https://www.textem-verlag.de/textem/kunst/538
[3] https://www.mamiverlag.de/p/tandem/
[4] https://comicfestivalhamburg.de/
[5] /Comics-mit-konsequent-weiblichem-Blick/!5864694
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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