# taz.de -- Höchste Ehren für Anke Feuchtenberger: Die Schneckenkönigin | |
> Doppelter Boden inklusive: Anke Feuchtenbergers Graphic Novel „Genossin | |
> Kuckuck“ ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. | |
Bild: Ausschnitt aus „Genossin Kuckuck“ von Anke Feuchtenberger | |
Der Übergang vom Realistischen ins Fantastische geschieht fließend. Gerade | |
wurde Kerstin noch von ihren Mitschülerinnen festgehalten und gezwungen, | |
ihnen ihr „Westkaugummi“ zu geben und zu sagen, woher sie es hat. Doch sie | |
hält dicht. Die „kleine Frau“ mit den dicken Zöpfen geht daraufhin an ein… | |
stillen Waldsee und lockt mit dem Kuckucksruf die „große Frau“ daraus | |
hervor. [1][Ein riesiger Frauenkopf erscheint ihr und streckt Kerstin | |
plötzlich ihre drei Brüste entgegen …] | |
Es ist eine magische Szene in Anke Feuchtenbergers Graphic Novel „Genossin | |
Kuckuck“. Das nächtliche Erlebnis zeichnet sie mit feinen Schraffuren aus | |
Kohle und Bleistift, Kerstins Kopf scheint in einem Strudel aus schwarzen | |
Linien zu ertrinken. Ist das Mädchen einer obskuren Göttin begegnet oder | |
handelt es sich bloß um ein kindliches Fantasiegespinst? Die Autorin und | |
Zeichnerin stellt die Sequenz an den Beginn ihres Buches. | |
Mit „Genossin Kuckuck“ wurde erstmals ein Comic in der Kategorie | |
„Belletristik“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. [2][Anke | |
Feuchtenberger] bezeichnet das Werk, an dem sie etwa 14 Jahre arbeitete, | |
als „Bilderzählung“. Eine lineare Handlung gibt es nicht, stattdessen | |
werden Episoden aus dem fiktiven Dorf Pritschitanow in Vorpommern erzählt, | |
die um die zentrale Figur Kerstin – Alter Ego der Autorin – und ihre beste | |
Freundin Effi kreisen. Es beginnt im Kindesalter in den 1960er Jahren und | |
springt hin zu Episoden in der Pubertät. | |
## Schroffe Oma | |
Sozialistische Erziehung in der DDR spielt in Kerstins Wahrnehmung eine | |
prägende Rolle. Ihre Eltern stellt sie sich damals als „Helden im Dienste | |
des Sozialismus“ vor, in Form grob gehauener Statuen, denn sie kennt sie | |
nicht. Kerstin wächst bei der Großmutter auf, einer schroffen | |
Russischlehrerin, zu der sie trotzdem Zärtlichkeit empfindet. Auch wenn sie | |
ihren großen, „schönen“ Bruder Jochen hat, wird die abwesende Mutter | |
schmerzlich vermisst. | |
Kerstin flüchtet in die Fantasie, begegnet der „Schneckenkönigin | |
Vontjanze“. Grenzen zwischen Mensch, Tier und Pflanze verwischen. Menschen | |
tragen Schweinsmasken oder werden zu Hund-Mensch-Hybriden. Sozialistische | |
Phrasen, Volksfeste und Verbrüderungsrituale mit Besatzern werden als | |
absurde Rituale dargestellt: „Niemand hört zu.“ Kerstin kehrt am Ende | |
zurück ins Dorf, um ein Fotoalbum abzuholen, und landet in einem „Heim“ | |
voller verdrehter Erinnerungen. | |
Anke Feuchtenberger greift all diese Motive und Geschehnisse bis hin zu | |
Verwerfungen der Nachwendezeit (in Form von fragwürdigen Privatisierungen) | |
auf und verfremdet sie derart, dass es für Leser:innen nicht immer | |
einfach ist, die Vorgänge zu entschlüsseln. Vieles wurzelt in Erinnerungen | |
der Autorin an ihre Kindheit in der ostdeutschen Provinz und den oft | |
lieblosen Umgang Erwachsener mit Kindern. | |
## Wuchernde Naturmetaphern | |
Die wuchernde Naturmetaphorik und manch surrealer Einfall spiegeln | |
Feuchtenbergers in ihrem Werk gewachsene Ideenwelt, in der sie ihren Alltag | |
fantastisch verarbeitet und verwandelt. Meist platziert sie zwei Panels | |
untereinander, bricht diese Struktur aber auf, wenn sie mit ganz- oder | |
doppelseitigen Panels narrative Höhepunkte markiert. Zwischen manche | |
Kapitel setzt sie abgeschlossene Prosatexte. | |
Sprechblasen benutzt sie sparsam, über oder zwischen die Bilder platziert | |
sie hingegen häufig den Erzähltext, dessen filigranes Lettering den | |
Kunstcharakter der Erzählung unterstreicht. Die Sprache setzt noch eins | |
drauf, poetisiert und mystifiziert, sodass ein an Märchen erinnernder | |
Erzählduktus entsteht. Jedoch ein gruseliger, der das kindliche Erleben um | |
einen doppelten Boden erweitert. Er deutet die eine oder andere | |
Ungeheuerlichkeit an – körperliche Gewalt, Rohheit, bis hin zu sexuellen | |
Übergriffen, traumatisierenden Erfahrungen. | |
## Komplexe Autofiktion | |
Anke Feuchtenberger hat schon in früheren Werken, wie „Die Spaziergängerin�… | |
(2012), mit den Mitteln des Comics hochkomplexe Erzählungen geschaffen. | |
„Genossin Kuckuck“ ist vielleicht ihr Opus magnum, in dem sie in | |
kompromissloser Weise auf ihr Leben zurückblickt. Ergebnis ist eine | |
autofiktionale Erzählung eines „vergangenen Ostens“ voller surrealer, | |
zuweilen drastischer Einfälle, die zugleich abstoßen wie faszinieren | |
können. | |
[3][Als langjährige Professorin für „Zeichnen und Grafische Erzählung“ an | |
der Hochschule HAW in Hamburg] fördert sie seit Jahrzehnten Talente der | |
sequenziellen Kunst. Die Nominierung von „Genossin Kuckuck“ ist ein | |
deutliches Zeichen des Literaturbetriebs, dass er sich zunehmend für die | |
Kunstform Comic interessiert, die an der Schnittstelle zwischen Kunst und | |
Literatur verortet ist – wie auch für die sich immer stärker profilierende | |
deutsche Comicszene. | |
14 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Legendaerer-Berliner-Comicladen-wird-25/!5353385 | |
[2] /Comics-mit-konsequent-weiblichem-Blick/!5864694 | |
[3] /Graphic-Novel-Genossin-Kuckuck/!5959855 | |
## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
## TAGS | |
Graphic Novel | |
Nominierung | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
Hochschule für Angewandte Wissenschaften | |
Deutscher Comic | |
Ausstellung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Graphic Novel „Genossin Kuckuck“: Traum und Trauma | |
Zum Erscheinen ihrer autobiografischen Bilderzählung „Genossin Kuckuck“ | |
wird Anke Feuchtenberger mehrfach Thema auf dem Comicfestival Hamburg. | |
Comics mit konsequent weiblichem Blick: Die Schönheit der vielen Gestalten | |
Geschichten über Sex, Gender und Identität: Erstmals gibt es alle | |
Geschichten um Katrin de Vries' und Anke Feuchtenbergers Hure H in einem | |
Band. | |
Comicausstellung in Berlin: Die Zeichnerin als Superheldin | |
Eine jüngere Generation Künstlerinnen bringt weibliche Perspektiven in die | |
Comicszene. Das Museum für Kommunikation stellt sie vor. |