# taz.de -- Protest für Bildungs-Sondervermögen: Zeitenwende statt Staatsvers… | |
> Die Bildungskrise führt zum ersten landesweiten Protest seit Jahren. Die | |
> Initiator:innen fordern 100 Milliarden – und Führung vom Kanzler. | |
Bild: Demonstrierende Schüler:innen 2008 in Hannover | |
In den vergangenen 15 Jahren hat sich in Deutschland viel getan. Um mal das | |
Positive zu nennen: Das Land hat [1][seine Kernkraftwerke runtergefahren], | |
die Union den [2][Mindestlohn] eingeführt, in der Bundesregierung gibt es | |
mittlerweile [3][Beauftragte für sexuelle Vielfalt und Antirassismus]. Und, | |
und, und. Doch während sich die Gesellschaft in manchen Bereichen | |
erfreulich progressiv entwickelt, tritt das Bildungssystem seit Jahren auf | |
der Stelle – und das ist gesellschaftspolitisch fatal. | |
In seinem zentralen emanzipatorischen Versprechen versagt der Staat bis | |
heute: dass ein sozialer Aufstieg für jedes Kind möglich sei. Es ist schon | |
erstaunlich, dass es in all den Jahren nicht ein Mal zu einem landesweiten | |
Bildungsprotest gekommen ist. | |
Der letzte, der den Namen verdient, [4][begann im Sommer 2008.] Heute | |
erinnern sich viele nur mehr an die Studierenden, die sich gegen | |
Studiengebühren und die überstürzte Bologna-Reform wehrten. Angefangen | |
hatte der Protest jedoch unter Jugendlichen, die sich gegen | |
Schulsponsoring, Turboabi und Leistungsdruck stemmten, Schulstreik | |
inklusive. Auch wenn das Aufstiegsversprechen dabei vielleicht keine Rolle | |
spielte – das Gefühl der umfassenden Bildungskrise war ähnlich verbreitet | |
wie heute. | |
Auch vor 15 Jahren ging es schon um fehlende Investitionen, marode Gebäude | |
und mangelnde Lehrkräfte. Nach jenem Protestsommer sollte die damalige | |
Kanzlerin Angela Merkel übrigens versprechen, die [5][Bildungsausgaben auf | |
10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen]. Ein ähnliches Signal | |
lässt ihr Nachfolger Olaf Scholz in der aktuellen Bildungskrise vermissen. | |
Vielleicht kommt es ja noch. | |
An diesem Samstag nämlich findet wieder ein landesweiter Bildungsprotest | |
statt. Ausgerufen hat ihn die [6][Initiative Bildungswende jetzt!,] der 180 | |
Bildungsorganisationen und Gewerkschaften angehören. Ein so breites Bündnis | |
für Bildung ist eine gute Nachricht. Vor allem ist es eine Abrechnung mit | |
den Politiker:innen, die uns seit Jahren mit den immer gleichen Phrasen | |
abspeisen. | |
Doch wenn es darum geht, endlich anzupacken, bremsen sich Bund und Länder | |
oft gegenseitig aus. Oder es fehlt dann leider doch das Geld. Eine | |
Regierungspartei verspricht nicht weniger als weltbeste Bildung – und legt | |
gleichzeitig den Rotstift am Bildungsetat an. Und der Kanzler schaut zu. | |
Auch deshalb gehen jetzt Schüler:innen und Eltern, Erzieher:innen, | |
Sozialarbeiter:innen und Lehrkräfte in 29 Städten auf die Straße. | |
Sie fordern, dass die Politik die Bildungskrise endlich ernst nimmt. Und | |
dass der Bundeskanzler auch hier eine Zeitenwende ausruft – inklusive | |
Sondervermögen über 100 Milliarden Euro. Die Forderungen sollten Kabinett | |
und Kultusministerkonferenz ernst nehmen. Denn die Lage ist es auch. | |
Wie schlimm es ist, zeigt ein Blick in die Statistiken. Aktuell fehlen | |
bundesweit fast 400.000 Kitaplätze. Jedes vierte Grundschulkind kann am | |
Ende der vierten Klasse nicht richtig lesen. Die Inklusion besteht | |
weitgehend nur auf dem Papier. Rund 50.000 Jugendliche verlassen jedes Jahr | |
die Schule ohne Abschluss. Die Chancen für Kinder aus sozial | |
benachteiligten Familien, es aufs Gymnasium zu schaffen, sind auch heute | |
beschämend niedrig. Und von denen, die ein Studium beginnen, ist ein | |
Drittel von Armut gefährdet. Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen. | |
Auch in dieser Woche kamen weitere Horrormeldungen hinzu. | |
## Pausenbrot keine Selbstverständlichkeiten | |
So hat eine Umfrage der Robert Bosch Stiftung unter Lehrkräften ergeben, | |
dass die Kinderarmut an Schulen sichtbar zugenommen hat. Für immer mehr | |
Kinder sind Klassenfahrten, Sportvereine, selbst Stifte und Pausenbrot | |
keine Selbstverständlichkeiten. Es sagt viel aus über den Zustand an | |
Schulen, wenn Lehrer:innen im Verhalten der Kinder mittlerweile eine | |
größere Herausforderung sehen als im Personalmangel. | |
Für die Ängste, Konflikte und Konzentrationsprobleme von Jugendlichen gibt | |
es sicher die unterschiedlichsten Gründe. Klar ist aber: Das Personal hat | |
bei den oft miesen Arbeitsbedingungen eigentlich gar keine Chance, sich um | |
alle Schüler:innen ausreichend zu kümmern. Trotzdem finden sich | |
multiprofessionelle Teams wahrscheinlich öfter in Redemanuskripten als in | |
den Lehrerzimmern vor Ort. | |
Und, falls dies alles nicht schon genug ist, so schnell wird es nicht | |
besser. Soeben haben die Kultusministerien ihre Prognose zur | |
Schüler:innenzahl aktualisiert: Bis 2035 wächst sie um fast 10 Prozent. | |
Was das für die durch zu wenig Personal gebeutelten Schulen bedeutet, | |
rechnete dann prompt die GEW vor: In den nächsten zwölf Jahren benötigt das | |
Bildungssystem mehr als eine halbe Million (!) neuer Lehrkräfte, um seine | |
Arbeit gut erledigen zu können. | |
Eigentlich lassen die Fakten keinen anderen Schluss zu, als Bildung mit | |
absoluter Priorität zu behandeln. Doch erschreckenderweise ist davon wenig | |
zu spüren. Das sieht man beispielsweise am Kompromiss beim sogenannten | |
Startchancen-Programm, für den sich Bund und Länder gerade feiern. Mit dem | |
Programm will die Ampelregierung 4.000 Brennpunktschulen gezielt fördern. | |
Bildungsforscher:innen haben angemahnt, dass das Geld unbedingt nach | |
sozialen Kriterien verteilt – und mit ausreichend vielen Milliarden | |
ausgestattet – werden muss. Der gefeierte Kompromiss dürfte die | |
Expert:innen aber enttäuschen. Denn letztlich wird ein Teil der Gelder | |
erneut mit der Gießkanne ausgeschüttet. Und mehr als eine zusätzliche | |
Milliarde pro Jahr wird wohl nicht an die Schulen fließen. Um die | |
anhaltende Chancenungleichheit wirksam zu bekämpfen, bräuchte es deutlich | |
mehr. | |
So bleibt das Startchancen-Programm ein guter erster Schritt. Den | |
Bildungsprotest wird es nicht besänftigen können. Bundeskanzler Scholz muss | |
endlich Position beziehen. Am besten beruft er einen Bildungsgipfel ein, um | |
mit allen Beteiligten über die notwendigen nächsten Schritte zu reden. | |
Dazu könnten gehören: ein Staatsvertrag, der die Bundesländer dazu | |
verpflichtet, genug Lehrkräfte auszubilden und die Ausbildung praxisnäher | |
zu gestalten; eine Neuorientierung der Lehrpläne, die weniger auf Noten | |
denn auf die Herausforderungen der Zukunft (Stichwort Klimakrise) | |
ausgerichtet ist; natürlich ein Sondervermögen über 100 Milliarden Euro, um | |
die notwendigen Investitionen an Kitas und Schulen auch tätigen zu können; | |
und nicht zuletzt die Anhebung der Bildungsausgaben auf 10 Prozent des BPI. | |
Dieses Versprechen hat Deutschland schließlich noch nicht eingelöst – auch | |
nicht nach 15 Jahren. | |
23 Sep 2023 | |
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