# taz.de -- Ein Gin Tonic zur Kassette: Retro-Ding verdient Retro-Drink | |
> Die Kassette erlebt ein Comeback. Wer in diesen Tagen ein Band in den | |
> Recorder legt und dazu einen Gin Tonic trinkt, verlängert den Sommer. | |
Bild: Die Kassette ist zurück – wo ist der Recorder? | |
Sie ist älter als ich, sorgte für mich in guten wie in schlechten Zeiten | |
und verschwand bald nach dem Mauerfall. Aber jetzt kommt sie wieder: | |
[1][die Kassette.] Jedenfalls sagen das Leute, die es wissen müssen: | |
Musikmanager:innen, Label-Chefin:innen, [2][Inhaber:innen von | |
Plattenläden]. Der [3][Trend zur Schallplatte,] die noch älter ist als die | |
Kassette, hat schon vor Jahren Einzug gehalten. | |
Jetzt folgt die Kassette. Aber die, die es wissen, sagen auch: Ungefähr die | |
Hälfte der Leute, die sich heute Platten kaufen, haben gar keinen | |
Plattenspieler. Ich ahne: Die Zahl derer, die keinen Kassettenrecorder | |
haben, ist noch größer. Was wollen die also mit den „kleinen rechteckigen | |
Dingern mit Löchern drin“, wie eine recht junge Kollegin die Kassette | |
beschrieb. Immerhin wusste sie, was ich meine, als ich sie fragte, ob ihr | |
Kassetten bekannt seien. Ihre Oma hatte welche, schob sie hinterher. | |
Ich besitze noch einen Kassettenrecorder, sogar ein Doppeldeck, ein | |
Geschenk einer älteren Kollegin, nachdem mein 20 Jahre altes Gerät den | |
letzten Umzug nicht überstanden hatte. Ich besitze natürlich auch noch jede | |
Menge Kassetten. Darunter eine mit den „schönsten Männerstimmen“, so steht | |
es auf der Hülle – ein Geschenk eines Freundes aus dem Westen, der mich | |
damals rumkriegen wollte. Ich besitze auch eine Kassette mit den „schönsten | |
Frauenstimmen“ – das Pendant dazu und von einem Freund aus dem Osten, der | |
dem „Klassenfeind“ nicht so einfach das Feld überlassen wollte. Manchmal | |
hörte ich erst die eine, dann die andere Kassette. | |
Mittlerweile sind beide Kassetten ziemlich abgegriffen und die Tonqualität | |
hat gelitten, obwohl ich mit beiden Teilen ausnahmsweise mal keinen | |
Bandsalat hatte. Die Boomer:innen wissen, was das heißt: Wenn sich das | |
braune Magnetband im Kassettengerät verhedderte und nur noch Tonsalat von | |
sich gab. Dann hieß es: Sofort die Austaste drücken, Kassette rausholen und | |
das Band mit dem Finger oder einem Bleistift wieder aufrollen. | |
## Gin Tonic oder Mojito – das ist hier die Frage | |
Das Retro-Ding Kassette verdient natürlich einen Retro-Drink. Das kann | |
nichts anderes sein als ein Gin Tonic. In den 80ern, als ich alt genug für | |
Alkohol war, setzte sich in der DDR neben dem Mojito der Gin Tonic durch. | |
Das mit dem Mojito war kompliziert, denn uns fehlte der weiße Rum und vor | |
allem der braune Rohrzucker. Wer in Ostberlin lebte oder dort zu Besuch | |
war, konnte mit einem bisschen Glück [4][im Lindencorso oder im Palast der | |
Republik Mojito trinken]. Aber oft hatte die Bar dort weder Rum noch | |
Rohrzucker. Und sehr häufig war die Eismaschine kaputt, die aus den | |
Kühlschrankeisblöcken crushed ice machte. | |
Gin jedoch gab es selbst im Osten. Zwar nicht in Hülle und Fülle und schon | |
gar nicht in Leipzig, wo ich bis zum Jahr des Mauerfalls studiert hatte. | |
Den Gin kaufte ich in Berlin und schleppte ihn im Rucksack nach Leipzig, | |
ebenso zahlreiche Tonic-Flaschen. Dann konnte die Party steigen, mit dem | |
Drink und Musik aus dem Stern-Recorder. | |
Damals investierte ich einen nicht geringen Teil meines schmalen | |
Studi-Budgets in Gin Tonic. Während [5][Bier und Schnaps in der DDR billig | |
waren], musste man sich für einen Gin Tonic bewusst entscheiden. Ein | |
Viertelliter Bier kostete 51 Pfennig, ein halber 1,02 Mark. Ein | |
sensationelles Preis-Leistungsverhältnis, würde man heute sagen. Für zarte | |
0,2 Liter Gin Tonic allerdings bezahlte ich in der MB, der Leipziger | |
Moritzbastei, die sich damals schon damit rühmte, der größte | |
Studierendenklub Europas zu sein, 2,50 Mark. | |
Aber das mit dem Bier hat mich trotz des Preisgefälles nie gerockt. Bier | |
schmeckt mir bis heute nicht. Außerdem finde ich es noch immer stillos, mit | |
einem Pott Bier an der Bar zu stehen. So ein Gin-Tonic-Glas macht | |
ästhetisch einfach mehr her. | |
Und wenn schon eine junge Kolumnistin im Gin den „Geist der | |
Selbstbestimmung“ entdeckt und ein gestandener Psychologe, der sich selbst | |
als Stressexperte bezeichnet und in einer Wochenzeitung Coachingtipps gibt, | |
Gin-Trinker:innen einen „erlesenen Geschmack“ zuspricht, kann Gin so | |
verkehrt nicht sein. „Gegen die Aromen von Wacholderbeeren, Koriandersamen | |
und getrockneten Zitronenschalen ist an sich nichts einzuwenden“, sagt der | |
Psychologe. Wäre da nicht der Alkoholgehalt von rund 38 Prozent. | |
## Niemals die Kontrolle über den Gin verlieren | |
Hartes Zeug, da hat der Job-Coach recht – wenn man das jeden Abend trinkt. | |
Oder mehrfach in der Woche. Ich gehe aber davon aus, dass mittlerweile alle | |
wissen, dass der [6][Missbrauch dann den Genuss überdeckt]. Zumal es auch | |
keinen Spaß macht, sich jeden Abend zuzulöten. Wer so weit gekommen ist, | |
hat die Kontrolle über den Gin verloren. | |
Andere würden sagen, Gin ist so etwas wie Medizin mit Geschmack. Denn die | |
Wacholderbeeren, aus denen der Gin gewonnen wird, gemixt mit Kräutern, | |
helfen durchaus bei der Verdauung und sind belly’s little helpers bei | |
Blähungen. Manche Sorten enthalten Koriander und Rosmarin – was wiederum | |
entgiftend wirkt. Die im Gin enthaltenden Flavonoide stärken das | |
Immunsystem und können sogar das Herz-Kreislauf-System positiv | |
beeinflussen. | |
Apropos Positivismus: Mit Gin lässt sich am Cocktail-Tresen nicht nur gut | |
rühren und schütteln – ein [7][Klassiker ist der Negroni], ein Mix mit | |
gleichen Teilen aus Gin, Wermut, Campari, der übrigens noch älter ist als | |
die Kassette, nämlich über 100 Jahre – sondern auch wunderbar | |
experimentieren. Aktueller Hit ist Rosé Spritz: Gin, [8][Martini Rosato], | |
Eis, Orange. Es überrascht sicher nicht, wenn ich versichere: Das ist | |
leicht, das ist spritzig, das ist frisch-fruchtig. Das ist einfach | |
wunderbar. | |
Dazu die Kassette mit den „schönsten Frauenstimmen“ eingelegt – und schon | |
ist der Sommer verlängert. | |
6 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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