# taz.de -- Alkohol aus Fichtennadeln: Ein Schnaps wie ein Waldspaziergang | |
> Kann man die Natur einfangen? Man kann. In einem Glas mit Mailingen, | |
> Korn, Zucker. Heraus kommt ein einzigartiger Fichtenlikör. | |
Bild: Ein noch frischer Fichtenzapfen | |
Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich brauche keinen Winter. Für | |
die Natur hierzulande mag er wichtig sein – mir aber widerstrebt die | |
allgemeine Winterstarre zutiefst. Deshalb genieße ich es gerade sehr, dass | |
die Tage länger werden, die Sonne öfter scheint und es wärmer wird. Und | |
jetzt, da sich auch der Wald daran erinnert, dass es Knospen, Blüten, | |
Farben gibt, ist es Zeit für einen Spaziergang dort. Im Wald kann man den | |
Frühling riechen: frisch, herb, erdig, ein wenig nach Kräutern. | |
Dieser Geruch hält nicht ewig, der Wald unterliegt einer ganz besonderen | |
Momentaufnahme: Heute noch blüht etwa der Huflattisch gelb vor sich hin, | |
duftet leicht nach Honig – und schon morgen hängen die Blütenblätter braun, | |
schlapp und geruchlos hinab. Aber es geht auch anders: Den Geruch des | |
Waldes kann man nämlich einfangen – in einer Schnapsflasche. | |
Dafür muss man – was sonst – in den Wald gehen, schon bald, spätestens | |
Anfang Mai. Und man muss sich ein wenig mit Nadelbäumen auskennen. Den | |
Geruch fängt man mit Fichten ein, um genau zu sein, mit den Trieben dieses | |
Nadelbaumes. Aus den kleinen, biegsamen, hellgrünen Trieben der Fichte, die | |
im Frühjahr an den Astspitzen wachsen und die man Mailinge oder Maiwipferl | |
nennt, kann man Schnaps machen. Fichtenschnaps. | |
Das geht so: Man muss die Mailinge von den Ästen abknipsen, i[1][n einem | |
großen Glas sammeln] und Doppelkorn und Zucker draufkippen. Einfacher Korn | |
reicht auch, beim Zucker kann man alle Varianten verwenden: braun, weiß, | |
Kandis. Oder Honig. Welche Form der Süße und wie viel davon, entscheidet | |
man am besten nach Anspruch an die eigene Gesundheitsoptimierung. Das Ganze | |
muss nun an einem kühlen Ort [2][bis zum Winter reifen], bevor man den | |
Schnaps abfüllen und trinken kann. Achtung: Das Gemisch muss alle drei | |
Wochen umgerührt werden. | |
## Geruch und Geschmack des Waldes eingefangen | |
So jedenfalls macht es meine Kollegin Nora, die seit einigen Jahren | |
regelmäßig im Frühjahr Urlaub nimmt, sich im Harz in ein Haus mitten im | |
Wald zurückzieht und Mailinge sammelt – um daraus Fichtenschnaps zu | |
produzieren. Noras Fichtenschnaps ist eine Rarität, nicht nur weil er den | |
Geruch und den Geschmack des Waldes einfängt, sondern vor allem weil er | |
komplett handgemacht und eine limited edition ist. Nicht zu vergleichen mit | |
den von Brennereien vertriebenen Fichtenschnäpsen, die da | |
[3][Fichtengeist], [4][Fichtensprosse], [5][Zirbenschnaps], [6][Zirbenherz] | |
heißen. | |
Manche Firmen preisen ihre Fichtenschnäpse und -liköre zwar als handmade | |
„in langer Tradition“ – aber was kann besser sein als eine Spirituose, der | |
man beim Werden zugeschaut hat? Kollegin Nora sagt, es gebe zwei | |
unwiederbringliche Momente beim Produzieren des Fichtenlikörs: das Suchen | |
und Sammeln der Mailinge zu Beginn der wärmeren Jahreszeit und der Genuss | |
des Likörs am Ende des Jahres, wenn es bitterkalt ist. | |
Und wunderschön sieht er auch noch aus. Denn zwischen Frühling und Winter | |
wechselt der Schnaps im Glas seine Farbe: von weiß über gelb bis | |
schließlich bernsteinfarben. Je nachdem, wie viele der Zutaten enthalten | |
sind, bewegt sich die Bernsteinanmutung zwischen goldgelb, braunocker, | |
nelkenbraun. | |
Wie viel Korn, Zucker oder Honig Sie benötigen, um den Geist des Waldes in | |
die Flasche zu bekommen, hängt ganz davon ab, wie viele Mailinge Sie | |
finden. Das ist mittlerweile gar nicht mehr so einfach. Der Harz zum | |
Beispiel, der Wald, in dem Kollegin Nora alljährlich ihre Mailinge sammelt: | |
Früher war er ein verwunschener Märchenwald, er bestand zu 90 Prozent aus | |
Fichten. Jetzt stirbt er. So wie der Wald generell. Vier von fünf Bäumen | |
sind [7][laut Waldzustandsbericht] krank, nur ein Fünftel sind gesund. | |
Besonders leidet die Fichte, „sie stirbt großflächig“, wie die Waldexpert… | |
Nicole Wellbrock sagt. Schuld daran sind – wir wissen es – die | |
[8][Klimakrise, der Borkenkäfer, der Mensch.] | |
## Fichtenschutz oder Schnapsgenuss? | |
Aber darf man angesichts des Fichtensterbens überhaupt noch Mailinge | |
sammeln? Machen weniger Mailinge die Fichten noch mehr kaputt? Seit einigen | |
Jahren klettern im Herbst Baumsteiger hoch in die Fichten und ernten | |
Fichtenzapfen, man nennt sie daher auch Zapfenernter. Sie holen aus den | |
gesunden Bäumen deren Samen, um daraus neue Bäume zu ziehen. Dafür haben | |
sie nur wenige Tage Zeit, sonst springen die Zapfen auf und die Samen | |
fliegen davon. | |
Mit den Zapfen und ihren Samen haben die Mailinge gar nichts zu tun. Die | |
Mailinge, aus denen der einzigartige Fichtenlikör produziert wird, sind die | |
Triebe an den Spitzen der Äste, wenn man so will, neue Äste. Die wachsen | |
wie unzählige Finger an den Ästen heraus. Doch auch davon gibt es infolge | |
des Fichtensterbens immer weniger. Kollegin Nora erlebt es in jedem | |
Frühjahr: Die Triebe hängen mittlerweile recht weit oben an den Bäumen, sie | |
muss sie intensiver suchen als früher. | |
Und wie schmeckt nun der Wald? Das müssen Sie schon selber ausprobieren. | |
24 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.chefkoch.de/rs/s0/fichtenschnaps/Rezepte.html | |
[2] /Eierpunsch-auf-dem-Weihnachtsmarkt/!5898265 | |
[3] https://stilvol.de/einkaufen/nadelwald-fichtengeist/ | |
[4] https://www.weisshaus.de/details/faude-feine-braende-fichtensprosse-geist-4… | |
[5] https://anno1940.at/produkt/zirben-schnaps/?attribute_pa_bottle_size=05l&am… | |
[6] https://edelbrand.at/de/onlineshop-lik%C3%B6re/wamperl-stamperl-zirbenherz-… | |
[7] /Waldzustandsbericht-2022/!5920227 | |
[8] /Zustand-des-Waldes/!5920160 | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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