# taz.de -- Fairer Kapitalismus: Gerechtigkeit ist machbar | |
> Der Kapitalismus ist ein knallhartes Spiel – doch es könnte fairer | |
> laufen: mit einem globalen Mindestlohn und dem Ende aller Steueroasen. | |
BERLIN taz | Die UNO möchte alle Menschen aus der Armut befreien, aber | |
warum ist das so schwer? Eine erste Antwort liefert die Geschichte von Sven | |
und Ram. Sven ist Busfahrer in Stockholm, Ram in New Delhi. Beide | |
transportieren im Schnitt 50 Menschen – aber Sven verdient 50-mal mehr als | |
Ram. | |
An Sven selbst kann es nicht liegen, dass er so wohlhabend ist, denn er | |
fährt ja den gleichen Bus wie Ram. Aber Sven hat das Glück, in Schweden zu | |
leben, das in seinen Betrieben sehr viele Maschinen einsetzt. Von dieser | |
gesamtwirtschaftlichen Produktivität profitieren auch Angestellte, die in | |
kaum technisierten Berufen arbeiten. Also Busfahrer, Lehrer oder Pfleger. | |
Die Geschichte von Sven und Ram stammt von dem südkoreanischen Ökonomen | |
Ha-Joon Chang, und sie erklärt gut, wie Länder zu Reichtum kommen. Sie | |
müssen in ihre Produktivität investieren. Leider sind Maschinen teuer und | |
lohnen sich nur, wenn menschliche Arbeitskraft noch teurer ist – wenn also | |
die Löhne hoch sind. Im Globalen Süden sind die Gehälter jedoch meist | |
kümmerlich, sodass es sich nicht rentiert, in Technik zu investieren. | |
Bangladesch ist ein gutes Beispiel: Dort sind rund vier Millionen | |
NäherInnen damit beschäftigt, [1][Kleidung für den Westen herzustellen]. | |
Sie sitzen an elektrischen Nähmaschinen – nutzen im 21. Jahrhundert eine | |
Technik, die bereits im 19. Jahrhundert in Europa erfunden wurde. | |
Theoretisch könnte man auch automatisierte Textilmaschinen aufstellen. Es | |
ist kein Naturgesetz, dass Jeans per Hand geschneidert werden müssen. Aber | |
diese Maschinen wären zu teuer, weil Arbeitskräfte in Bangladesch so billig | |
sind. | |
## Es wird schwerer die Industriestaaten einzuholen | |
Rasante Entwicklung ist nur möglich, wenn der Staat einsteigt und die | |
Industrialisierung zentral steuert. Ob Japan, Taiwan, Südkorea oder China: | |
Sie alle sind in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsen und haben den | |
Westen eingeholt, weil ihre Regierungen die enormen Anfangsinvestitionen | |
finanziert und geplant haben. Es war der Staat, der die Elektrizitätswerke, | |
Hochöfen und Autofabriken in Auftrag gegeben hat. | |
Allerdings wird es für den Globalen Süden zunehmend schwer, die | |
Industriestaaten einzuholen. Die Nachzügler sind mit einem neuen Problem | |
konfrontiert: Durch den technologischen Fortschritt müssen die Fabriken | |
ständig größer werden, um noch rentabel zu arbeiten. | |
Das lässt sich etwa an der Automobilindustrie gut zeigen: Die | |
Pkw-Produktion ist so teuer, dass sie sich nur lohnt, wenn sehr viele Wagen | |
gleichzeitig hergestellt und auf einem riesigen Markt abgesetzt werden. | |
[2][Die Chinesen sind also klar im Vorteil], weil sie über eine Bevölkerung | |
von 1,4 Milliarden Menschen verfügen. Da ist es noch möglich, Zollschranken | |
zu errichten, um die heimischen Betriebe gegen die ausländische Konkurrenz | |
zu schützen. | |
## Staaten verharren nicht in einer vorindustirellen Zeit | |
Kleinere Länder hingegen können sich nicht abschotten, weil ihre Märkte | |
nicht groß genug sind, und sitzen damit gewissermaßen in der Falle: Sie | |
[3][sind auf den weltweiten Freihandel angewiesen], damit ihre Produkte die | |
nötigen Abnehmer finden – aber genau dieser Freihandel begünstigt die | |
etablierten Industrieländer, die technologisch überlegen sind und | |
Konkurrenz nicht fürchten müssen. | |
Aus diesen Problemen folgt nicht, dass der Globale Süden in einer | |
vorindustriellen Zeit verharren würde. Der Kapitalismus prägt die gesamte | |
Welt. Fast überall gehen jetzt auch Mädchen zur Schule, fast alle Kinder | |
sind gegen Polio oder Pocken geimpft, und mehr als 90 Prozent der | |
Menschheit sind an eine Wasserversorgung angeschlossen. Auch besitzen die | |
meisten Erdbewohner ein Handy und haben damit Zugang zum Wissen der | |
gesamten Welt. Der US-amerikanische Fortschrittsoptimist Andrew McAfee | |
schreibt begeistert: „Ein Massai-Kämpfer mitten in Kenia verfügt heute über | |
besseren Mobilfunk als der US-Präsident vor 25 Jahren.“ | |
Der Globale Süden kann also wohlhabender werden – aber es ist fast | |
unmöglich, den Norden technologisch und ökonomisch einzuholen. Um auf | |
Bangladesch zurückzukommen: Das dortige Pro-Kopf-Einkommen lag 2020 | |
umgerechnet bei 5.307 US-Dollar. Die Deutschen kamen auf 54.076 US-Dollar, | |
sind also zehnmal so wohlhabend. | |
## Das doppelte Gesicht des Kapitalismus | |
Der Kapitalismus hat ein doppeltes Gesicht: Konsumgüter verbreiten sich | |
weltweit; überall sind Autos, Handys oder Sneaker zu haben. Doch daraus | |
folgt nicht, dass diese Güter auch überall produziert würden. Stattdessen | |
beliefern wenige Länder die gesamte Erde. Wie es der [4][Historiker Jürgen | |
Osterhammel] einmal ausdrückte: „Industrialisierung ist kein | |
‚flächendeckend‘ globaler Prozess in Analogie zur Verbreitung des | |
Fernsehens.“ | |
Europa und die USA können nichts dafür, dass sie sich früh industrialisiert | |
haben und es den Nachzüglern nun schwerfällt, technisch aufzuholen. | |
Trotzdem ist der reiche Norden nicht gänzlich unschuldig daran, dass der | |
Globale Süden arm bleibt, denn es gäbe durchaus Strategien, um den | |
Entwicklungsländern beizustehen. Zwei Sofortmaßnahmen wären besonders | |
wichtig. | |
Erstens: Es muss einen weltweiten Mindestlohn für Exportprodukte geben. | |
Bisher werden die Beschäftigten im Globalen Süden gnadenlos ausgebeutet, | |
sodass in Deutschland T-Shirts schon für 2,70 Euro zu haben sind – wobei | |
auch ein Preis von mindestens 10 Euro die Bundesbürger nicht überfordern | |
würde. Ein globaler Mindestlohn müsste tatsächlich für alle Länder | |
einheitlich gelten, damit Bangladesch nicht gegen Kambodscha oder Laos | |
ausgespielt werden kann. | |
Zweitens: [5][Steueroasen müssen ausgetrocknet werden.] Für die Mächtigen | |
des Südens ist es bis heute möglich, ihr Land auszuplündern und das | |
geraubte Geld im Norden zu verstecken. Ob Malta, Zypern, die Schweiz oder | |
Großbritannien: Reiche Länder bieten ihre Dienste an, damit Potentaten ihre | |
Untertanen bestehlen können. Hinzu kommt, dass die internationalen | |
Unternehmen im Globalen Süden hohe Umsätze machen, aber die Gewinne nach | |
Hause transferieren und nicht vor Ort versteuern. Auf diese Art finanziert | |
der arme Süden den reichen Norden mit, obwohl es umgekehrt sein müsste. | |
Zwar fließen jährlich etwa 150 bis 200 Milliarden US-Dollar an | |
Entwicklungshilfe, aber weit mehr Geld strömt aus den armen Ländern zurück | |
in die wohlhabenden Staaten, die Steuerflucht und Steuergestaltung | |
erlauben. | |
17 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-Einsturz-des-Fabrikgebaeudes-2013/!5927474 | |
[2] /Von-der-Leyen-zur-Lage-der-EU/!5960173 | |
[3] /Mercosur-Gipfel-zum-Handelsvertrag/!5945591 | |
[4] /Historikertag-in-Berlin/!5135001 | |
[5] /Experte-ueber-die-Pandora-Papers/!5806868 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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