# taz.de -- 50 Jahre Putsch in Chile: Protokolle vom 11. September 1973 | |
> Sie wurden verhaftet, gefoltert, galten als verschwunden. Vier Menschen | |
> erzählen, wie sie den Putsch erlebten. | |
Bild: Helfer und Mitglieder des Präsidiums des ehemaligen Präsidenten Allende… | |
## Lelia Pérez, ehemaliges MIR-Mitglied: Gefoltert im Stadion und in der | |
Villa Grimaldi | |
Ich sehe mich als Überlebende, nicht als Opfer. Als der Putsch kam, war ich | |
16 Jahre alt und Mitglied der Linken Revolutionären Bewegung (MIR). Ich | |
schrieb an dem Tag eine Klassenarbeit in der Schule und war nervös, weil | |
ich nicht gelernt hatte. | |
Der Unterricht wurde unterbrochen und wir hörten im Radio die [1][letzte | |
Rede des Präsidenten Allende]. Er verabschiedete sich. Wir sahen von einem | |
Turm des Schulgebäudes zu, wie die Luftwaffe das Regierungsgebäude La | |
Moneda bombardierte. Einige meiner Klassenkameraden waren Kinder von | |
Parlamentariern und von Politikern, die mit dem Präsidenten im | |
Regierungsgebäude waren. Als wir die Schule verließen, war die Hauptstraße | |
Alameda voll mit Soldaten. Es gab keine Busse, keinen Transport. Wir hörten | |
Schüsse, Sirenen und Helikopter. | |
Keine 24 Stunden später wurde ich verhaftet. Die Carabineros zwangen uns, | |
uns mit dem Gesicht nach unten auf die Straße zu legen, die Hände nach oben | |
gestreckt. Sie liefen über uns drüber und schlugen auf uns ein. In diesem | |
Moment erfuhr ich, dass der Präsident tot war. | |
Sie brachten mich ins Nationalstadion, das heute Estadio Víctor Jara heißt. | |
Als ich das Stadion betrat, überschritt ich die Schwelle ins Unbekannte. | |
Ich zitterte am ganzen Körper. Insgesamt war ich drei Tage dort. Ich hatte | |
kein Zeitgefühl, denn sie hatten uns die Uhren weggenommen. Sie | |
experimentierten an uns und probierten ihre Foltermethoden aus. Als sie | |
mich frei ließen, halfen mir Prostituierte, denn in der Nähe war ein | |
Bordell. Sie wuschen mich, gaben mir Kleidung und Geld für den Bus. Ich | |
ging nach Hause. | |
Ich beendete die Schule und betätigte mich weiter politisch im Untergrund. | |
Viele gingen ins Exil, aber die MIR vertrat eine Anti-Exil-Politik. Ich | |
half denen, die sich verstecken mussten, ich brachte sie von einem Ort zum | |
anderen, um ihr Leben zu retten. Wir lebten in ständiger Angst. | |
Im Oktober 1975 wurde ich zum zweiten Mal verhaftet, diesmal von der DINA, | |
Pinochets Geheimpolizei. Sie brachten mich in die Villa Grimaldi. Dort | |
wurde ich gefoltert und verhört. Meine Familie suchte mich, für sie war ich | |
eine Verschwundene. Im Dezember brachten sie mich ins Konzentrationslager | |
Tres Álamos, wo ich bis September 1976 gefangen war. Als sie mich | |
freiließen, richteten sie ein Gewehr auf mich und sagten: Du hast 30 Tage | |
Zeit, um das Land zu verlassen. | |
Protokoll: Sophia Boddenberg | |
## Sibylle Riedmiller, Helferin mit Diplomatenpass: Unter Folter verraten | |
Kurz nach dem Putsch kam ich mit einem Unesco-Job nach Chile, als Mitglied | |
des Berliner Chile-Komitees meine erste Wahl – wegen Allende. Meinen | |
Vertrag unterschrieb ich im August 1973, für Ausreise im Oktober, im | |
September kam dann der Putsch. Ich hätte kündigen können, aber das | |
Chile-Komitee brauchte Leute, die in Chile noch unbekannt waren. Ein guter | |
Freund, Rolf Rosenbrock, kam auch, wir wohnten ein Jahr lang zusammen und | |
spielten zur Tarnung ein Paar. Das Ehepaar Paas lernte ich dort kennen – | |
zusammen nannte man uns im Untergrund die „4 Alemanes“. | |
Leben in Chile nach dem Putsch bedeutete Ausgangssperre, die nächtliche | |
Grabesstille unterbrochen von Schüssen, Hubschrauber flogen niedrig über | |
die Dächer, im Büro am nächsten Tag Einschusslöcher an den Wänden, im | |
Mapocho-Fluss Leichen, die von Anrainern heimlich am Ufer begraben wurden. | |
Die ersten Monate arbeiteten wir vor allem als Fluchthelfer für Amnesty | |
International mit dem damaligen (im Gegensatz zu seinem Nachfolger) | |
humanitär engagierten deutschen Botschafter. Er organisierte zum Beispiel | |
Empfänge, wo wir bedrohte Chilenen fein gekleidet im Auto mitbrachten. Das | |
Militär bewachte den Eingang, merkte aber nicht, wenn hinterher weniger | |
Leute rauskamen. In der Residenz lebten bald bis zu 80 Chilenen mit dem | |
Botschafter in einer großen Wohngemeinschaft, die Matratzen stapelten sich | |
in der Eingangshalle bis an die Decke. | |
Wir arbeiteten auch eng mit der deutschen Presse. Rolf Pflücke, ein | |
Studienfreund und Lateinamerika-Korrespondent deutscher Sender, war sehr an | |
Lageberichten, Kontakten und Zeugenaussagen interessiert, die wir liefern | |
konnten. Seine eindrücklichen Reportagen für die „Tagesschau“ und | |
politischen Magazine sind heute im Erinnerungsmuseum in Santiago zu sehen. | |
Mein Job erforderte Auslandsreisen, ideal für Kurierdienste für den | |
chilenischen Untergrund. Im Unesco-Büro wusste niemand davon, viele | |
chilenische Kollegen waren Anhänger der Junta, und der UN-Arbeitsvertrag | |
verpflichtete zu politischer Neutralität. | |
Nach fast zwei Jahren flog ich auf. Ich hatte für den Generalsekretär der | |
Sozialisten Geld nach Chile geschmuggelt, 45.000 Dollar. Am Treffpunkt für | |
die Übergabe überfielen mich vier Agenten des Geheimdienstes. Sie sprangen | |
zu mir ins Auto, zogen mir eine Kapuze über, hielten mir eine Knarre an den | |
Kopf, griffen sich das Geld und wir fuhren aus der Stadt. Mitten in der | |
Wüste ließen sie mich stehen, es ging ihnen offenbar nur ums Geld, mein | |
Diplomatenpass half auch. | |
Hinterher hörte ich, dass der Generalsekretär inzwischen verhaftet worden | |
war und mich wohl unter Folter verraten hatte. Ich musste sofort ausreisen. | |
Jahrzehnte später erfuhren wir, dass er mit vielen uns bekannten Chilenen | |
in der deutschen Sektenkolonie Colonia Dignidad unter Folter umgebracht | |
wurde. Protokoll: Martin Kaluza | |
## Svenja Berg*, Stipendiatin in Valparaiso: Als „Kommunistin“ verdächtigt | |
Nach meinem Studienabschluss reiste ich mit einem Stipendium nach Chile. Am | |
Tag des Militärputsches war ich in einem Dorf nördlich der Hafenstadt | |
Valparaiso. Zwei einschneidende Erfahrungen prägten die nächste Zeit: 1. | |
Der völlige Zusammenbruch von bisher gültigen Regeln. 2. Die Erfahrung von | |
brutaler Willkür und Gewalt. | |
Am Tag des Putsches schien alles Leben wie erstarrt! Alle Ausländer mussten | |
sich umgehend bei der Polizei melden. Ich zeigte dort meinen Pass aus der | |
Bundesrepublik. Auf die Frage des Polizisten, wo ich leben würde, sagte | |
ich: In Berlin. Sofort konterte er: „Comunista!“ und ich wurde | |
festgehalten! Ich versuchte, ihn auf die geteilte Stadt Berlin hinzuweisen | |
– kein Erfolg! Mein Pass wurde beschlagnahmt. Man fuhr mich ins Hotel, um | |
dort mein Zimmer zu durchsuchen. Als man mein Buch von Klaus Eßer fand – | |
„Durch freie Wahlen zum Sozialismus oder Chiles Weg aus der Armut“–, war | |
für sie endgültig klar, dass ich „Comunista“ sei … | |
Am nächsten Tag wurde ich zum Hafen von Valparaiso gebracht und auf dem | |
Schiff „Esmeralda“ abgesetzt, unter dessen Deck bereits viele Männer | |
zusammengepfercht lagen. Immer wieder wurde ein Gefangener brutal | |
zusammengeschlagen. Soldaten trieben ihn im Laufschritt zu einer Tür und | |
stießen ihn eine steile Eisentreppe hinunter, die er schreiend auf den | |
Rippen hinabrutschte. | |
Wir hörten oft, wie gefoltert wurde: In die dumpfen Geräusche der | |
getretenen Körper und die Schreie stimmten die Soldaten mit Gebrüll ein. | |
Irgendwann wurden die Gefangenen zurückgebracht und wimmernd auf eine | |
Matratze gestoßen. Ich sah Männer, deren Kleidung am Rücken blutig und | |
zerrissen und das rohe Fleisch zu sehen war. Das ging die folgenden Nächte | |
so weiter. Die Tochter eines Abgeordneten wurde ebenfalls heftig gefoltert. | |
Ich kam mit ein paar Tritten und Schlägen mit dem Gewehrkolben davon. | |
Am fünften Tag wurden alle gefangenen Frauen zum Schiff „Lebu“ gebracht und | |
dort in einer winzigen Kabine zusammengepfercht. Tagelang mussten wir | |
schweigen. Wenn jemand mit verbundenen Augen zum Verhör weggebracht wurde, | |
hörten wir durch das Röhrensystem des Schiffes verzweifelte Schreie. Wenn | |
die Frauen irgendwann zurückkamen, waren sie vor Angst erstarrt oder | |
weinten heftig. – Nach elf Tagen wurde ich durch Intervention der Deutschen | |
Botschaft befreit. | |
*Name geändert (d. Red.) Protokoll: Martin Kaluza | |
## Amaro Labra, Gründer der Band Sol y Lluvia: Mit verbundenen Augen von | |
Carabineros verschleppt | |
Der Tag des Putsches war seltsam. Die Waffen, über die der bewaffnete | |
Widerstand angeblich verfügte, existierten nicht. Ich beschloss, in mein | |
Viertel Vicente Navarrete zu gehen. Ich war der Meinung, dass wir aufklären | |
mussten. Mein Bruder Charles und ich beschlossen, dass Musik, Bilder und | |
Worte die Mittel waren, mit denen wir uns politisch engagieren wollten. | |
1978 gründeten wir die Musikgruppe Sol y Lluvia (Sonne und Regen). Wir | |
gingen zu den Protesten und brachten viele Menschen durch die Musik | |
zusammen. Unsere Trommel markierte den Beginn der Protestmärsche. In den | |
Vierteln entstand eine Widerstandsbewegung, zu der die Musik und auch die | |
ollas comunes, die Gemeinschaftskochtöpfe, gehörten. 1978 war ich in Hornos | |
de Lonquén, als dort die Überreste von verschwundenen Gefangenen gefunden | |
wurden. Zum ersten Mal gab es einen Beweis dafür, dass sie existierten. | |
Daraufhin schrieb ich ein Lied mit dem Titel „[2][Lonquén]“. Dieses Lied | |
zeigt, was unsere Musik war: Ein rhythmisches Spiel, das fröhlich wirkte, | |
aber in Wirklichkeit eine Anklage war. Wir spielten in vielen | |
Stadtvierteln, bei Gewerkschaften und an den Universitäten. Das Militär und | |
die Polizei versuchten, die Leute davon abzuhalten, zu den Konzerten zu | |
gehen, aber sie gingen trotzdem hin. Ich glaube, die Kultur war ein starker | |
Widerstand gegen die Diktatur. | |
Wir hatten das Gefühl, in einem ständigen Gefängnis zu sein. An einem 11. | |
September während der Diktatur gingen wir mit meinem Bruder los, um Plakate | |
aufzuhängen, und wurden von den Carabineros verhaftet. Sie brachten uns auf | |
eine Polizeistation, wo sie uns nackt auszogen. Dann wurden wir mit | |
verbundenen Augen an einen anderen Ort verschleppt. Ich weiß bis heute | |
nicht, wohin. Dort waren wir zwei Tage lang. Mein Bruder sagt, dass sie | |
Elektroschocks angewandt haben. Ich kann mich an nichts erinnern. | |
Nach zwei Tagen haben sie uns mit verbundenen Augen und gefesselt auf die | |
Straße gesetzt. Wir dachten, sie würden uns erschießen. Aber sie hatten uns | |
direkt neben unserem Haus freigelassen. | |
Wir machten weiter Musik. Als wir bei den Konzerten das Lied „[3][Adiós | |
General“] sangen, erschraken die Leute zuerst. Aber dann sprangen sie auf | |
und ab und sangen mit. Bis heute wird das Lied auf Demonstrationen | |
gesungen. Mir persönlich wäre es lieber, wenn es nicht mehr gesungen werden | |
müsste. Die Tatsache, dass immer noch die gleichen Lieder gesungen werden, | |
zeigt, dass es keine tiefgreifende Veränderung gegeben hat. | |
Protokoll: Sophia Boddenberg | |
11 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=xZeEfXjTNu4 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=OAvLOw6Oh_U | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=4zNYk1U92kU | |
## AUTOREN | |
Sophia Boddenberg | |
Sibylle Riedmiller | |
Martin Kaluza | |
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