Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sportprofessorin über Bundesjugendspiele: „Leistungsgedanke blei…
> Der Sportprofessorin Ina Hunger gehen die Änderungen bei den
> Bundesjugendspielen nicht weit genug. Diese verfehlten die Ziele modernen
> Schulsports.
Bild: Kann Kinder im besten Fall für Bewegung begeistern: Sportunterricht in d…
taz: Frau Hunger, verstehen Sie die Aufregung um die [1][angebliche
Abschaffung der Bundesjugendspiele]?
Ina Hunger: Nein. Als wäre es der Untergang der Leistungsgesellschaft, wenn
aus einem „Wettkampf“ ein „Wettbewerb“ gemacht wird.
Was nur in der Grundschule gilt und nur bedeutet, dass Leistungen nicht
mehr zentimeter- und sekundengenau gemessen werden.
Ja, ich hätte mir weitergehende Änderungen gewünscht. Aber grundsätzlich
begrüße ich, dass die Verantwortlichen erkannt haben, dass die
Bundesjugendspiele in ihrer seit Jahrzehnten bestehenden Form nicht mehr
angemessen sind.
Inwiefern sind sie das nicht?
Offizieller Bildungsauftrag von Sportunterricht ist heute, die Bandbreite
von Sport- und Bewegungsmöglichkeiten aufzugreifen und Heranwachsenden
nahezubringen, warum es sich lohnt, Sport zu treiben: die Risikosuche, das
Erleben von Gemeinschaft, die Verbesserung von körperlicher Leistung und
einiges mehr. Die Bundesjugendspiele hingegen stellen einen winzigen
Ausschnitt des olympischen Sports unter einem normierten Leistungsaspekt in
den Vordergrund, auf den der Sportunterricht die Kinder aber kaum
vorbereitet. Deshalb wird bei den Bundesjugendspielen das gemessen, was sie
mehr oder weniger spontan können oder durch ihren außerschulischen Sport
gelernt haben.
Was wäre besser?
Wenn es bei den Bundesjugendspielen nicht um eine vermeintliche
Bestenauslese, sondern um ein Sportfest gehen soll, das an den Unterricht
anknüpft, dann muss Sport in seiner Vielfalt abgebildet werden:
beispielsweise durch Wettbewerbe, bei denen die Kinder in ganz
unterschiedlichen Bereichen ihre Leistungen miteinander messen können. Sie
könnten das Sportfest auch gestalterisch dokumentieren, als
„Sportjournalist:innen“.
Eine solche Herangehensweise würden Ihnen diejenigen, die sich über die
vermeintliche Abschaffung der Bundesjugendspiele echauffiert haben, als
[2][„Kuschelpädagogik“] und [3][„Flauschokratie“] auslegen.
Es geht nicht um die Abschaffung der Leistungsorientiertheit, sondern um
ein Mehr an Möglichkeiten des Leistungsvergleichs jenseits von Zentimetern,
Sekunden oder Punktetabellen – und nicht zuletzt um das Schüren von Freude
an sportlicher Betätigung und Leistung.
Die Anhänger der Bundesjugendspiele argumentieren, diese seien ein
Ausgleich für die Misserfolge bildungsferner Kinder in anderen Fächern.
Gibt die Empirie das her?
Im Gegenteil. Es ist statistisch eindeutig, dass diejenigen, die in
sogenannten bildungsfernen Haushalten aufwachsen, eher von Übergewicht,
Bewegungsmangel und Sportabstinenz gefährdet sind, weil die Sozialisation
in den Familien weniger bewegungsaffin ist.
Hinter der Argumentation steckt, glaube ich, die Idee vom physisch
überlegenen Arbeiter.
Auch ein überholtes Klischee. Ich möchte mich aber nicht an diesen zum Teil
wirklich haarsträubenden Argumenten abarbeiten, die die Bundesjugendspiele
in ihrer Wirkkraft überhöhen und düstere Untergangsszenarien bei
Abschaffung dagegensetzen.
In Ihrer Forschung befragen Sie Schüler:innen zu ihrem Erleben des
Sportunterrichts. Äußern die sich auch zu den Bundesjugendspielen?
Ja, weil diese aus dem sonstigen Schulalltag hervorstechen. Aus Sicht der
Kinder wird an diesem Tag vor allem bestätigt, was sie schon wissen: wer am
weitesten werfen oder am schnellsten laufen kann.
Oder wer am langsamsten ist.
Genau. Das bekommen sie dann noch mal attestiert, für alle sichtbar.
Ich habe in dem Zusammenhang in einem Kommentar das Wort „traumatisch“
verwendet, in dem Sinne, dass hier die Selbststeuerung abhanden kommt,
Menschen sich ausgeliefert fühlen. Finden Sie das übertrieben?
Eine öffentliche Niederlage verursacht oft eine quälende Langzeitwirkung.
Aber unabhängig davon: In der bisherigen Form verfehlen die
Bundesjugendspiele ihren Zweck.
Den erkennen viele darin, dass die Kinder lernen, mit Niederlagen
umzugehen.
Als gäbe es sonst keine Niederlagen im Leben von Heranwachsenden … Wenn der
Umgang mit Niederlagen tatsächlich der pädagogisch erwünschte Lerneffekt
sein sollte, sei die Frage erlaubt: Was genau sollen die Kinder lernen?
Dass sie sich mehr anstrengen sollen? Dass andere besser sind? Dass Sport
nichts für sie ist?
Sie haben mal gesagt, wenn man im Sportunterricht versage, habe man das
Gefühl, als ganze Person zu versagen – anders als bei schlechten Noten in
anderen Fächern.
Wer in Mathe an der Tafel versagt, wird wahrscheinlich auch sagen, das hat
mich gedemütigt. Aber wir stellen fest, dass das öffentliche Versagen im
Sportunterricht von anderer Qualität ist. Sportliche Leistungsfähigkeit hat
etwas mit der körperlichen Verfassung zu tun, verweist auf das
Freizeitverhalten und ist eben kein schulisches Ergebnis. In diesem Sinne
verweist das Versagen auf sie als Person und nicht auf ihr Merkmal
„Schüler“. Und da unter den gleichaltrigen Peers „Sportivität“ ein se…
hoher Wert ist, sind die Reaktionen auf ein Versagen hier oft härter und
nachdrücklicher als in anderen Fächern.
Warum?
Körperliche Formen und Fitness werden in unserer Gesellschaft als Zeichen
eigener Anstrengungen und des Lebensstils gedeutet. Nach dem Motto: Körper
ist kein Schicksal, du musst dich um ihn kümmern, an ihm arbeiten. In
diesem Sinne werden Körperformen auch Charaktereigenschaften zugesprochen.
Was meinen Sie damit?
Eine schlanke Figur wird als leistungsbereit gedeutet, Übergewicht als
nicht anstrengungsbereit. Dabei hat sich das Bashing von Übergewichtigen
sehr verschärft, auch wegen der Formen des Verfolgens in sozialen Medien.
Und im Sportunterricht wird immer noch ausgelacht und gelästert? Ich hatte
gehofft, es hätte sich in den letzten 40 Jahren mehr geändert.
Es hängt natürlich von den Lehrkräften ab, welches Klima sie im Unterricht
schaffen und wie sie Themen aufbereiten. Aber so etwas wie diese
Mannschaftswahlen …
… bei denen immer dieselben zuerst und zuletzt gewählt werden …
… die halten sich leider sehr, sehr hartnäckig. Und selbst wenn junge
Sportlehrkräfte in ihrer Ausbildung gelernt haben, dass so ein öffentlicher
Selektionsprozess nach Beliebtheit und Sportivität nicht haltbar ist und es
hundert andere Möglichkeiten gibt, eine Klasse gerecht aufzuteilen,
beobachten wir mitunter, dass sie im Schulalltag wieder darauf
zurückgreifen.
Warum?
Oft wird es als organisatorisch am einfachsten erachtet oder es wird darauf
verwiesen, dass die Kinder dieses Verfahren einfordern. Dabei wird
übersehen, dass diejenigen, die die Mannschaftswahlen laut einfordern, eben
diejenigen sind, für die es vorteilhaft ist. Kinder, die als letztes
gewählt oder an die andere Mannschaft „verschenkt“ werden, weil sie „es
nicht bringen“, leiden still und fühlen sich nicht in der Position, solche
Verfahren anzugreifen.
Werden die falschen Leute Sportlehrer:innen? An vielen Hochschulen gibt es
schwere Eignungsprüfungen vor der Zulassung zum Sportstudium.
An der Universität Göttingen haben wir das abgeschafft. Wir wollten nicht
das Signal geben, dass man gut mit der Kugel stoßen und schnell laufen
können muss, um bei uns Sportlehrerin zu werden. Dadurch erreichen wir eine
größere Vielfalt an Studierenden, also nicht nur die, die aus den
traditionellen Sportarten kommen, sondern die bewegungsaffin zu ganz
anderen Dingen sind und Lust haben, ihre Bewegungsfreude weiterzugeben.
Die sind geeigneter als der Leichtathletikcrack oder die Leistungsturnerin?
Nein! Das sind auch Menschen, die von Sport begeistert sind, was
grundsätzlich gut und notwendig ist. Allerdings darf die eigene
Begeisterung nicht den Blick auf die Unterschiedlichkeit der Kinder
verdecken. Und persönliche Sporterfahrungen dürfen nicht den Blick auf die
Bandbreite von Sport- und Bewegungsangeboten verengen. Problematisch wird
es, wenn sich einzelne Lehrkräfte zu stark mit den sportlichen
Schüler:innen identifizieren und übersehen, dass es Kinder gibt, die
körperlich völlig überfordert sind, deren Schamgrenzen überschritten oder
die sozial ausgegrenzt werden. Ungünstig ist auch, wenn Lehrkräfte nur ihr
eigenes Sportmotiv zum Ausgangspunkt nehmen und andere Sinnperspektiven von
Sport ausblenden. [4][Sportunterricht braucht vor allem gute Lehrkräfte],
er hat keine magischen Kräfte.
Aber genau dieser Anspruch wird an den Sportunterricht formuliert in der
Debatte um die Bundesjugendspiele. Er soll die Kinder schlank, gesund und
sportlich machen.
Ja, zum Teil werden klischeehafte Heilserwartungen geäußert. Aber die
geläufige öffentliche Rede über das, was Sportunterricht leisten soll,
überdeckt Folgendes: Sportunterricht ist weder ein Fitnessstudio noch der
Zubringer für den deutschen Leistungssport. Dafür gibt es andere
Institutionen! Zuallererst ist Sportunterricht ein Bildungsfach, das formal
den anderen Fächern gleichgestellt ist. Im Sportunterricht können die
Kinder nicht dünner und gesünder gemacht oder für Olympia qualifiziert
werden.
Was kann er leisten?
Er kann Kinder für Bewegung begeistern und langfristig an Sport binden. Er
kann jedem und jeder Heranwachsenden die Chance bieten herauszufinden,
welcher Sport zu ihm oder ihr passt, was ihn oder sie antreibt, Sport zu
machen. Manche kommen so zum Hochleistungssport, andere zum langsamen
Laufen in der Natur. Aber Bandbreite alleine reicht nicht. Man kann auch
Yoga schlecht oder diskriminierend unterrichten, wenn Kinder vorgeführt
werden, weil sie zu schwer oder ungelenk sind.
Wie wirken sich [5][negative Erfahrungen mit dem Schulsport] auf die
Bewegungskarriere aus?
Wir machen qualitative Untersuchungen, deshalb können wir das nicht in
Prozenten beziffern. Wir wissen, dass es in jeder Klasse einige gibt, die
sich vom Sport abwenden, weil ihnen vermittelt wurde, sie seien nicht
sportlich, oder weil sie fürchten, sie erleben im außerschulischen Sport
Momente wie die im Sportunterricht. Manche sagen sogar, sie ertragen den
Geruch von Sporthallen nicht.
Das spricht für ein Trauma, wenn Situationen vermieden werden, weil
Flashbacks drohen.
Mag sein. Häufig begegnet uns, dass die Menschen doch irgendwie ihren
persönlichen Weg finden. Die sagen: „Ich habe immer gedacht, ich habe einen
unsportlichen Körper.“ Und dann erfahren sie später, dass sie zwar keine
Kugelstoßerin werden, aber eine ausdauernde Wanderin.
Sie arbeiten auch an Handlungsleitfäden für Sportlehrer:innen. Müssen Sie
noch extra sagen, dass Völkerball ein No-Go ist? Man wird gejagt, oft
brutal abgeworfen und dann muss man am Rand stehen und zugucken.
Das Völkerballspiel hat sich über Generationen hinweg zu einem Ritual
eingeschliffen, obwohl es hunderttausend Spiele gibt, die Jagen und
Entkommen zum Themen haben. Ein Grund dafür ist, dass Sport oft fachfremd
unterrichtet wird. Wenn man Sport nicht studiert hat, greift man
möglicherweise erst recht auf das zurück, was man aus dem eigenen
Unterricht oder aus der Freizeit kennt. Man übernimmt ein Spiel ohne zu
reflektieren, was es leisten soll. Oder eine bekannte Methode, ohne für
sich zu klären, ob andere Methoden vielleicht zu besseren Ergebnissen
führen.
Was ist daran problematisch?
Eine Lehrkraft muss begründen können, warum sie etwas mit den
Schüler:innen macht. Wenn sie nur sagen kann „Ich mache das, weil andere
das auch machen“, dann gute Nacht, dann kann gezielte Förderung nicht mehr
stattfinden. Es gilt immer zu prüfen, ob ein Angebot hinreichend
Lernpotenziale in sich trägt. Und auch, ob es Diskriminierungsdimensionen
birgt. Sportlehrer:innen müssen ihrer hohen Verantwortung für den
Körper und für die Psyche ihrer Schüler:innen gerecht werden.
26 Aug 2023
## LINKS
[1] /Bundesjugendspiele-gehoeren-abgeschafft/!5931115
[2] https://www.zeit.de/2023/30/bundesjugendspiele-reform-leistung-paedagogik
[3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundesjugendspiele-willkommen-in…
[4] /Kolumne-Heult-doch/!5717241
[5] https://www.pluspunkt.dguv.de/angstfach-sport/
## AUTOREN
Eiken Bruhn
## TAGS
Sport
Sportwissenschaft
Wissenschaft
Schulsport
Bildung
Schule
Sport
Schulsport
Kolumne Press-Schlag
Schulsport
Frauen-Fußball-WM 2023
Schulsport
Heult doch!
## ARTIKEL ZUM THEMA
Sportpädagogin über Sportunterricht: „Jede Stunde Zombieball ist nicht das …
Ina Hunger leitet an der Bremer Uni den Wiederaufbau der Sportpädagogik:
Studierende lernen dort, warum Leistungsorientierung mehr schadet als
nützt.
Sportunterricht für den Ernstfall: Kinder zum Krieg erziehen
Historiker Michael Krüger fordert ein anderes Verständnis des
Sportunterrichts. Schüler sollen für den Verteidigungsfall fit gemacht
werden.
Völkerball unter Verdacht: Und jeder Treffer sitzt
Die Versuche, Völkerball als Spiel im Schulsport regelmäßig in Verruf zu
bringen, zielen ins Leere. Das Duell macht einfach Spaß.
Debatte um Bundesjugendspiele: Neues vom Bundesschwanzvergleich
Man muss nicht der FDP angehören, um Unsinn über die „Abschaffung“ der
Bundesjugendspiele zu erzählen. Ein Mann zu sein reicht völlig aus.
Nach dem deutschen WM-Debakel: Die Tugenddebatte schwillt schon an
Die verweichlichte, deutsche Jugend soll also schuld sein. Unterirdischer
könnte die Diskussion nach dem deutschen WM-Aus kaum sein.
Bundesjugendspiele gehören abgeschafft: Ein traumatisches Ereignis
Seit 1979 müssen Kinder zeigen, wie gut oder schlecht sie rennen, werfen
und springen können. Dass das jetzt etwas lockerer werden soll, hilft
nichts.
Kolumne Heult doch!: Sportunterricht kann weg
Niemand braucht versetzungsrelevanten und phantasielosen Schulsport. In
dieser Form gehört Sportunterricht abgeschafft.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.