# taz.de -- Sommerserie „Wie riecht Berlin?“ (7): Das Sekret der Steine | |
> In Berlin den „Petrichor“ zu riechen ist Glückssache. Der Geruch von | |
> einsetzendem Regen nach längerer Trockenheit löst aber auch Glücksgefühle | |
> aus. | |
Bild: Gleich geht's los – dann gibt's auch was in die Nase | |
BERLIN taz | Es gibt Gerüche, die verfolgen uns überall, ob wir es wollen | |
oder nicht. Andere haben ihren spezifischen Ort, den wir erst aufsuchen | |
müssen. Wiederum andere lassen sich ohne Weiteres und jederzeit aktiv | |
erzeugen: indem wir Gewürze in einer Pfanne erhitzen oder die Hände mit | |
Seife waschen – um einmal bei den angenehmeren Aromen zu bleiben. Und es | |
gibt Gerüche, die uns so selten und unvorhersehbar in die Nase steigen, | |
dass sie allein deshalb zu etwas Kostbarem, Bedeutungsvollem werden. | |
Den Geruch, um den es heute geht, kennen – und mögen – die meisten | |
Menschen. Zumindest diejenigen, die in Weltregionen leben, wo trockenes und | |
feuchtes Wetter sich ablösen. Es ist der schwere Duft, den Wasser erzeugt, | |
wenn es auf ausgedörrte Erde fällt. Viele werden den Augenblick kennen, | |
wenn sich nach längerer Trockenheit der Himmel verdunkelt und erst | |
vereinzelte, dann immer mehr Tropfen auf das staubige Pflaster oder den | |
ausgedörrten Rasen klatschen. Innerhalb kürzester Zeit umhüllt uns eine | |
dichte olfaktorische Wolke, die den direkten Weg ins Assoziationszentrum | |
unseres Gehirns nimmt, bevor sie so schnell verschwindet, wie sie | |
entstanden ist. | |
Auch in Berlin entsteht dieser fragile und kurzlebige Duft mit einer | |
gewissen Zuverlässigkeit. In diesem Jahr könnte es allerdings schwierig | |
werden, ihn noch einmal zu erleben. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren | |
hat es im Sommer 2023 nicht nur ausgiebig, sondern auch häufig geregnet, | |
und eine längere Dürrephase scheint nicht mehr anzustehen. Der Petrichor – | |
wie mittlerweile nicht nur die Fachwelt das erdige Aroma nennt – benötigt | |
aber eine längere niederschlagsfreie Periode, bis ein plötzlicher Schauer | |
ihn auslösen kann. | |
## Göttliches Wundwasser | |
Der Begriff klingt altehrwürdig, wurde aber erst in den 1960er Jahren von | |
zwei australischen Wissenschaftlern erfunden: [1][Isabel Bear und Richard | |
Thomas] setzten das Wort aus den altgriechischen Vokabeln „petros“ (Stein) | |
und „ichor“ zusammen, wobei es in die Irre führt, wenn Letzteres auf vielen | |
Internet-Seiten als „Blut der Götter“ übersetzt wird. Das ist zwar eine | |
historische Bedeutung des Wortes, in der Medizin steht „ichor“ allerdings | |
für „Wundwasser“. Bear und Thomas wählten es in seiner Bedeutung als | |
„flüchtige Essenz“, und vielleicht trifft ja „Steinsekret“ im Deutsche… | |
Idee ganz gut. | |
Die AustralierInnen hatten erstmals ernsthaft erforscht, was bis zu ihrem | |
1964 veröffentlichten Aufsatz meist nur als „lehmiger Geruch“ (argillaceous | |
odour) bezeichnet wurde, als Phänomen aber natürlich seit Menschengedenken | |
bekannt war. Die Wissenschaft hatte sich für das flüchtige Phänomen zuvor | |
kaum interessiert, abgesehen [2][von dem US-Amerikaner Thomas L. Phipson]. | |
Der stellte in der US-Zeitschrift The Chemical News, Jahrgang 1891, die | |
Vermutung auf, der Erdgeruch bei Regen rühre von organischen Substanzen | |
her, namentlich den ätherischen Ölen von Pflanzen, die in Trockenperioden | |
von den porösen Oberflächen des Bodens eingefangen würden. | |
Phipson hatte das zuerst in der französischen Picardie mit ihren Kalkböden | |
beobachtet, wusste aber zu berichten, dass auch andere mineralische Stoffe | |
wie Mergel oder Phosphatgestein einen ähnlichen Geruch ausströmen, wenn man | |
sie behaucht. Er hatte auch versucht, die ominöse Essenz zu extrahieren, | |
was ihm mittels einer Bromlösung einigermaßen gelang: Am Ende erhielt er | |
„eine gelbliche, in Alkohol lösliche Substanz mit einem starken Geruch nach | |
Zedernholz“. | |
Die MineralogInnen Bear und Thomas stellten erst einmal klar, dass der | |
Petrichor nichts mit dem Geruch nach frischer Erde oder Gras zu tun hat, | |
sondern tatsächlich mineralische Untergründe zur Entstehung benötigt. Bei | |
ihrer Recherche stießen sie auch darauf, dass im nordindischen Kannauj, | |
einem traditionellen Zentrum der Parfümherstellung, schon seit Längerem | |
künstliches Petrichor produziert wurde. Für dieses mitti attar wird Ton | |
gebrannt, der Umgebungsluft ausgesetzt, dann befeuchtet und destilliert – | |
des Produkt kann man heute noch kaufen, natürlich auch übers Internet. | |
In einem Brennofen erhitzten Bear und Thomas verschiedene Gesteinsarten – | |
Basalt und Granit, aber auch Bauxit, Vulkanasche und Uranerz –, um alle | |
etwaigen organischen Verbindungen darauf zu zerstören. Dann ließen sie | |
diese unterschiedlich lange im Freien liegen, bevor sie die olfaktorischen | |
Qualitäten vor und nach Benetzung mit Wasser prüften. Am Ende ließ sich | |
praktisch immer eine nach Petrichor riechende ölige Substanz herausfiltern: | |
Moleküle, die die Oberflächen eingefangen hatten, solange sie nicht nass | |
geworden waren. Neben Pflanzenölen fanden sie darin „Geosmin“, einen erdig | |
riechenden Alkohol, der entsteht, wenn bestimmte Bakterien und Blaualgen | |
absterben. | |
## „Tief liegende Emotionen“ | |
Tiefer wollen wir nicht in die Wissenschaft des Steinsekrets hinabsteigen. | |
Klar ist: Abhängig von den jeweiligen Umweltbedingungen und der | |
Vegetationszone riecht Petrichor logischerweise überall auf der Welt etwas | |
anders, vielleicht aber ähnlich genug, um bei den Riechenden vergleichbare | |
Gefühlswelten zu eröffnen. Oder in den Worten des aus Nigeria stammenden | |
und [3][in Berlin lebenden Künstlers Emeka Ogboh]: „Petrichor kann | |
tiefliegende Emotionen auslösen. Selbst in Deutschland, wo der Geruch | |
manchmal nicht so leicht anzutreffen ist, weil es sehr regelmäßig regnet, | |
weckt er Gefühle von Vertrautheit, Heimweh und Erinnerungen an Momente, in | |
denen wir eine enge Verbindung zur Natur erlebt haben.“ Die Bedeutsamkeit | |
von Petrichor reiche über Individuen und einzelne Kulturen hinaus. | |
Ogboh arbeitet viel mit Sinneswahrnehmungen wie Klang und Geschmack – für | |
die Documenta 14 entwickelte er 2017 zusammen mit afrikanischen | |
Einwanderern ein unverwechselbares Craftbeer namens „Sufferhead“ –, und | |
auch mit Gerüchen wie Petrichor befasst er sich seit Jahren. Für seine | |
Ausstellung „Stirring the Pot“ 2021 in Marseille schuf er mit einem Pariser | |
Parfümeur eine Reihe von Gerüchen, die auf Herkunft und Migration | |
verweisen. Neben dem vertrauten Duft von hausgemachtem Essen war Petrichor | |
ein Art „universal connector“, so der Künstler. Ihn selbst versetze der | |
Geruch zurück in seine Kindheit im ostnigerianischen Enugu. Wenn er die in | |
Paris erzeugten Geruchsproben in seinem Berliner Atelier öffne, erzeugten | |
sie zuverlässig eine Kombination aus Unbeschwertheit und Wehmut. | |
## Platzende Blasen | |
Noch einmal zurück zur (in diesem Fall gar nicht so) trockenen Physik: Vor | |
einigen Jahren [4][fanden Forscher des Massachusetts Institute of | |
Technology heraus], dass die Energie der Regentropfen, die auf die | |
organischen Partikel im Straßenstaub treffen, winzige Blasen in die Luft | |
schleudern. Wenn diese platzen, setzen sie Aerosole, also Schwebstoffe, | |
frei. Bei leichtem Regen funktioniert das besser als bei einem schnell | |
einsetzenden Wolkenbruch – bei Letzterem ist die Luft über dem Boden | |
vermutlich so stark mit Wasser gesättigt, dass die eigentümlichen Aromen | |
vor der Ankunft auf unseren Geruchsrezeptoren gebunden werden. | |
Bleibt die Frage, ob es in Ordnung ist, sich über Trockenperioden zu | |
freuen, weil ein schwerer Petrichor-Duft als Belohnung winkt. Eine Studie | |
über die Ethik des Geruchs von Regen auf Erde in Zeiten des Klimawandels | |
könnte die Erforschung dieses Phänomens irgendwann komplettieren. | |
4 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/0016703766900251 | |
[2] https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/80/The_chemical_news._Volu… | |
[3] https://emekaogboh.art/ | |
[4] https://news.mit.edu/2015/rainfall-can-release-aerosols-0114 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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