# taz.de -- Klimaneutralität bis 2045: Laue Wärmewende | |
> Mehr als ein Drittel der Berliner Emissionen stammen von | |
> Vattenfall-Kraftwerken. Deren Fahrplan zur klimaneutralen Wärmeerzeugung | |
> ist wenig ambitioniert. | |
Bild: Noch werden viele Kraftwerke von Vattenfall mit Steinkohle betrieben | |
BERLIN taz | Industrielle Emissionen können gut für die Haut sein. In | |
seiner aktuellen Werbekampagne zeigt der Vattenfall-Konzern, wie das Model | |
Cara Delevingne sich aus einer schicken Sprühflasche „Industrial Emissions | |
Face Mist“ ins Gesicht pumpt. Klar: Bei dem nicht im Handel erhältlichen | |
Frischespray handelt es sich um das völlig unbedenkliche Abfallprodukt, das | |
bei der Verbrennung von Wasserstoff entsteht, wie er irgendwann in großem | |
Stil zur Energieerzeugung eingesetzt werden soll: reines H2O. | |
Was seine Klimaschutzbilanz angeht, ist der schwedische Konzern allerdings | |
noch weit vom Ziel porentiefer Reinheit entfernt: Allein in Berlin stoßen | |
seine Kraftwerke, die Strom und Wärme erzeugen, fast 5 Millionen Tonnen CO2 | |
im Jahr aus – weit mehr als ein Drittel der 13,4 Millionen Tonnen | |
Kohlendioxid, die das Land insgesamt emittiert. Weil [1][Klimaneutralität | |
bis 2045 Gesetz ist] und gerade die Wärmeerzeugung einen Großteil dieser | |
Emissionen ausmacht, hat Vattenfall vor Kurzem einen | |
„Dekarbonisierungsfahrplan“ für seine Fernwärmenetze vorgelegt. | |
KlimaschützerInnen halten diesen „Fahrplan“ jedoch für alles andere als | |
überzeugend: In einer ersten Bewertung kommt der Landesverband des Bundes | |
für Umwelt und Naturschutz (BUND) zu dem Schluss, dass das Konzept „nicht | |
die richtigen Weichen stellt, das Thema Nachhaltigkeit nicht ernst nimmt | |
und gefährliche Lücken für die Erreichung der Klimaschutzziele aufweist“. | |
Der klimapolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Stefan Taschner, nennt | |
das 35-seitige Dokument gegenüber der taz „ambitionslos“. Seiner | |
Wahrnehmung nach hat Vattenfall „das schnell runtergeschrieben, um seine | |
gesetzlichen Pflichten zu erfüllen“. | |
Derzeit erzeugt Vattenfall in seinem großen innerstädtischen Verbundnetz | |
sowie einigen kleinen „Inselnetzen“ jährlich fast 10 Terawattstunden Wärm… | |
die als heißes Wasser über ein unterirdisches Netz von mehr als 2.000 | |
Kilometer Länge in die angeschlossenen Gebäude geleitet wird. Erzeugt wird | |
sie in 14 Kraftwerken, vom Steinkohle-Riesen Reuter West in Siemensstadt | |
bis zu kleinen Anlagen wie dem mit Holzhackschnitzeln betriebenen | |
Biomassekraftwerk im Märkischen Viertel. Das Gros der Energieträger macht | |
allerdings – mit über 75 Prozent – Erdgas aus. | |
## Erste Bausteine der Dekarbonisierung | |
Vattenfall weist auf „erste Bausteine der Dekarbonisierung“ hin, etwa die | |
„Power-to-Heat“-Anlage am Standort Reuter West, wo ab Oktober mit | |
überschüssigem Strom Wasser in einem riesigen Kessel erwärmt und dann | |
gespeichert wird. Das dient allerdings vor allem der „Flexibilisierung von | |
Wärmeangebot und -nachfrage“. In einem ersten echten Schritt auf dem Weg | |
zur klimaneutralen Wärmeerzeugung will man nun bis 2030 aus der Steinkohle | |
aussteigen und auch die meisten älteren erdgasbetriebenen Anlagen der | |
Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) – Kraftwerke, die gleichzeitig Strom und Wärme | |
erzeugen – stilllegen. | |
Ausgeglichen werden soll das durch neue Großwärmepumpen, Biomassekraftwerke | |
und Wärmespeicher. In den Jahren bis 2035 sollen dann erste | |
Geothermieheizwerke errichtet werden, die Wärme aus der Tiefe der Erde | |
nutzbar machen. Außerdem soll damit begonnen werden, fossiles Gas durch | |
Wasserstoff zu ersetzen, der mit Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt | |
wird. Auch die Abfallverbrennung soll stärker als bisher zur | |
Fernwärmeerzeugung genutzt werden. | |
Bis 2040, „spätestens“ aber 2045 sollen gar keine fossilen Brennstoffe mehr | |
zum Einsatz kommen, heißt es in dem Dokument. Der genaue Zeitpunkt hänge | |
von der „Entwicklung des Energiemarkts und des weiteren Marktumfeldes“ ab, | |
„insbesondere der lokalen Verfügbarkeit von klimaneutralen Energieträgern�… | |
Gleichzeitig soll das Wärmenetz verdichtet und erweitert werden. Inwieweit | |
das Land dies unterstützt, soll bis Mitte 2026 in der „kommunalen | |
Wärmeplanung“ stehen, die die Senatsklimaschutzverwaltung aufstellen muss, | |
um das entsprechende Bundesgesetz einzuhalten. | |
Für Julia Epp vom BUND-Landesvorstand und BUND-Klimareferent Matthias | |
Krümmel lässt der Vattenfall-Fahrplan „viele Fragen offen“. Sie verweisen | |
in einem gemeinsamen Artikel etwa darauf, dass die Ausdehnung der | |
Abfallverbrennung von aktuell 4 auf 10 Prozent der Wärmeerzeugung weder mit | |
der „Zero-Waste-Strategie“ des Senats in Einklang zu bringen sei noch als | |
klimaneutral gelten könne. „Der Müll, den wir hier anzünden, ist | |
schließlich überwiegend fossilen Ursprungs“, so Krümmel zur taz. | |
## Ausweitung der Biomasseverbrennung | |
Auch die prognostizierte massive Ausweitung der Biomasseverbrennung – von 1 | |
Prozent heute auf 17 Prozent schon im Jahr 2030 – stößt den | |
UmweltschützerInnen übel auf. Es werde gar nicht näher ausgeführt, was da | |
eigentlich verbrannt werden solle und wie nachhaltig es sei, so Epp und | |
Krümmel. In Schweden habe Vattenfall jedenfalls ein forstwirtschaftliches | |
Modell unterstützt, bei dem Naturwald gerodet und durch Baumplantagen | |
ersetzt worden sei. | |
Interessant sind die 17 Prozent auch noch aus einem weiteren Grund: In der | |
„Machbarkeitsstudie Kohleausstieg und nachhaltige Fernwärmeversorgung | |
Berlin 2030“, die von Vattenfall und der Klimaschutzverwaltung in Auftrag | |
gegeben und 2019 vorgelegt wurde, war noch von einem Anstieg des | |
Biomasseanteils auf gerade einmal 4 Prozent die Rede. | |
Völlig schwammig bleibt für die KritikerInnen auch die Annahme, bis 2040 | |
oder auch 2045 ließen sich über 20 Prozent der Wärme mit grünem Wasserstoff | |
erzeugen. Studien, etwa vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung | |
(PIK), lassen eine drastisch geringere Verfügbarkeit des Gases erwarten. | |
Auch die Energiesparpotenziale durch energetische Gebäudesanierung | |
spielten kaum eine Rolle in dem Konzept. „Aber mal ehrlich“, fragen die | |
UmweltschützerInnen: „Kann man von Vattenfall erwarten, ein System mit | |
Nachfragereduktion zu entwerfen und damit auch die eigenen Kapazitäten und | |
das Geschäftsmodell infrage zu stellen? Wohl kaum.“ | |
## Es fehlt an einem Plan | |
Für den Grünen-Abgeordneten Stefan Taschner steht nach der Lektüre des | |
„Fahrplans“ fest: „Vattenfall setzt weiter auf Wärmeerzeugung in | |
Großkraftwerken, jetzt eben mit Biomasse und grünem Wasserstoff – hat aber | |
keinen Plan, woher die kommen sollen.“ Es brauche stattdessen ein „Mosaik“ | |
der Erzeugungsarten und eine stärkere Parzellierung der Wärmeversorgung, um | |
kleinteilige Lösungen einbinden zu können. Das könne bis hin zu dem in | |
Barcelona umgesetzten Modell kleiner Kraftwerke oder Wärmepumpen gehen, die | |
nur je einen Häuserblock versorgen. Taschner räumt ein, dass vieles noch | |
ausführlich von ExpertInnen durchgerechnet werden müsse. Er sehe dabei | |
„auch die Bezirke in der Pflicht“ sagt er zur taz: „Ich hätte gerne in | |
jedem Bezirk Wärmewende-ManagerInnen, die runde Tische organisieren.“ | |
Vielleicht hat man sich bei Vattenfall aber auch deshalb nicht allzu viel | |
Mühe mit dem Dekarbonisierungsfahrplan gemacht, weil der Konzern seine | |
Berliner Wärmesparte eigentlich noch in diesem Jahr abstoßen will. Wie | |
Sprecher Stefan Müller bestätigt, habe es auf die entsprechende Ankündigung | |
hin „zahlreiche Interessensbekundungen von potenziellen Investoren“ | |
gegeben. Auch der Senat gehört dazu – und zuletzt gab es Berichte, dass die | |
meisten privaten Interessenten abgesprungen seien. Es fänden aber derzeit | |
„intensivere Gespräche mit mehreren Bietern“ statt, so Müller. | |
Die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe unter Franziska | |
Giffey (SPD) teilt dazu nur blumig mit: „Es ist das erklärte Ziel des | |
Landes Berlin, die Wärme nach Hause zu holen.“ Zum laufenden Verfahren | |
könne man aber „keine Informationen geben“. | |
Und im Haus von Klimaschutzsenatorin Manja Schreiner (CDU), hält man dort | |
das von Vattenfall präsentierte Konzept für realistisch? Auf taz-Anfrage | |
enthält man sich in der Senatsverwaltung jeglicher Bewertung: Man stehe | |
„nach Sichtung der Dekarbonisierungsfahrpläne im Austausch mit der | |
Regulierungsbehörde für Fernwärme“, heißt es knapp. „Sie ist gemäß dem | |
Berliner Energiewendegesetz für deren Prüfung sowie die spätere Überwachung | |
der Einhaltung zuständig.“ | |
So wie es aussieht, könnten die meisten der an der Berliner Wärmewende | |
Beteiligten noch ein paar Stöße Erfrischungsspray gebrauchen, um endlich | |
auf Touren zu kommen. | |
10 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Rot-Rot-Gruene-Umweltpolitik-in-Berlin/!5795206 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
## TAGS | |
Vattenfall | |
Umweltpolitik | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Klimaneutralität | |
Fernwärme | |
Fernwärme | |
Tesla | |
Schifffahrt | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Klima-Volksentscheid | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Netzübernahme von Vattenfall: Wärme etwas weniger fern | |
Der schwarz-rote Senat in Berlin legt einen Nachtragshaushalt vor. Der soll | |
Kredite für den Kauf des Fernwärmenetzes ermöglichen. | |
Berlin kauft Fernwärmenetz: Wo kommt die Kohle her? | |
Schwarz-Rot will ein rot-grün-rotes Projekt fortsetzen und dafür Milliarden | |
ausgeben. Dabei klafft im neuen Haushaushalt schon ein 4-Milliarden-Loch. | |
Die Wochenvorschau für Berlin: Flieger, komm nach Hause | |
Das Land kann die Wärmewende in Richtung Klimaneutralität wohl bald selbst | |
umsetzen – dank einem Deal mit dem Vattenfall-Konzern. | |
Zukunft der maritimen Wirtschaft: Schiffe erst ab 2100 klimaneutral | |
Auch für den Schiffsverkehr gelten Klimaziele. Ein UN-Umweltausschuss berät | |
nun über ehrgeizigere Regeln, doch der Widerstand der Branche ist groß. | |
CO₂-Bilanz des Heizungsgesetzes: „Ein großes Fragezeichen“ | |
Das Gebäudeenergiegesetz der Ampel-Regierung soll Deutschlands Heizungen | |
CO₂-ärmer machen. Ob das klappen wird? Experten sind skeptisch. | |
Volksentscheid Berlin 2030 klimaneutral: Mehr auf die soziale Frage achten! | |
Umfragen ergeben: Der Klima-Volksentscheid scheiterte wohl nicht nur am | |
Quorum. Teilnehmer eines Podiums fordern breitere Bündnisse für die | |
Zukunft. |