# taz.de -- Dekadenz und Lustfeindlichkeit: Lasst den Leuten ihre Lust | |
> Der Untergang großer Zivilisationen ist oft mit Verachtung gepaart. Für | |
> die, die genießen und sich nicht mäßigen – zum Beispiel sexuell. | |
Bild: Dekadent und ausschweifend: Gloria Swanson und Ted Shawn im Film „Don´… | |
Wahr oder falsch: Die Römer hatten viel Sex und fraßen viel, und dann | |
gingen sie allesamt unter? Die Bilder von Gelagen und Orgien im späten | |
römischen Reich stecken tief im kulturellen Bewusstsein. | |
Dabei sind solche Darstellungen meist erst viel später entstanden. Es ist | |
nicht so, dass mächtige Römerinnen und Römer eine Einladung zum | |
All-you-can-eat-Buffet mit Courtisane ausgeschlagen hätten, wenn es sich | |
ergab. Aber die Feste waren wohl auch nicht übler als Yacht-Partys von CEOs | |
oder [1][Bordellwandertage bei Versicherungskonzernen] im einundzwanzigsten | |
Jahrhundert. | |
„Dekadente Bankette waren im Römischen Reich genauso wenig alltäglich wie | |
heute“, lese ich in einem [2][genussvollen Faktencheck im | |
Wissenschaftsmagazin The Conversation.] Der Altertumsforscher | |
Christian-Georges Schwentzel empfiehlt, die Berichte antiker Autoren über | |
die angebliche Verrohung der jeweils vorangegangenen Epoche nicht so ernst | |
zu nehmen. Sie hätten „immer ein moralisches Ziel: die Verurteilung der | |
‚Ausschweifung‘ im Namen der Mäßigung und der Enthaltsamkeit“. Die | |
Christianisierung des Römischen Reiches habe dies noch verstärkt. | |
Das interessiert mich erstens, weil ich mich immer ernsthaft gefragt habe, | |
was denn so schlimm an Buffets und Orgien sein soll, solange man ansonsten | |
nett ist. Und zweitens, weil ich bemerkte, dass die Idee von der „Dekadenz“ | |
oft sex- und queerfeindlich gedreht wird. Auf unappetitliche Weise mischt | |
sich da Herrschaftskritik mit Lustfeindlichkeit. Und die Angst vor dem | |
Untergang der eigenen Zivilisation mischt sich mit Verachtung für die, die | |
genießen, die sich nicht mäßigen – zum Beispiel sexuell. | |
## Das Ausbeuten und Herrschen ist doch das Schlimme | |
Anderes Beispiel, es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Königin | |
Marie-Antoinette je vorgeschlagen hat, das hungernde Volk möge „Kuchen | |
essen“. Trotzdem erinnern wir sie vor allem als weltfremde Hedonistin, die | |
ihren pedikürten Zeh in Schlagsahne tippt. Mir liegt nichts daran, | |
Marie-Antoinette zu rehabilitieren. Aber es fasziniert mich, dass wir es | |
nicht schlimm genug finden, wenn jemand Feudalherrscherin ist, sie muss | |
auch dekadent gewesen sein. | |
Auch die Römer haben Schlimmeres getan, als geschmacklose Afterhours zu | |
feiern. Vielleicht ist es schwierig, den Verlierer der Geschichte dafür zu | |
hassen, dass er ausgebeutet, geherrscht und gemordet hat, wenn man selbst | |
noch vorhat, auszubeuten, zu herrschen und zu morden. Dann doch lieber eine | |
Sex-Schmierenkampagne. | |
Ich sage das, weil ich glaube, dass in der Krise Verlustängste auf queere | |
und sexpositive Menschen projiziert werden. Irgendwo in der Idee von der | |
römischen Dekadenz liegt der Samen für dieses gefährliche Vorurteil. Dabei | |
ist es ganz einfach: Ausbeutung ist kacke, auch wenn man dabei zölibatär | |
lebt und Diät macht. Lasst Leute Lust haben. Den Untergang des Abendlandes | |
schaffen wir auch low cal. | |
11 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-sexskandal-der-… | |
[2] https://theconversation.com/did-the-romans-and-greeks-really-enjoy-orgies-2… | |
## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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