# taz.de -- Musikerin Chocolate Remix auf Tournee: Sexpositiv sells | |
> Chocolate Remix rappt über soziale Missstände in Argentinien und über | |
> lesbische Lust. Sie veränderte damit den als sexistisch geltenden | |
> Reggaeton. | |
Bild: Chocolate Remix | |
Der Song [1][„Como me gusta a mi“] (Wie es mir gefällt) zeigt, was „Choc… | |
begehrt: Frauen, die ihre Hüften kreisen lassen und die „verbotene Frucht“ | |
essen wollen. Akustisch und visuell geht es so explizit um Sex, dass man | |
vorher sein Alter bestätigen muss. Mit 1,5 Millionen Aufrufen ist es der | |
populärste Song von Chocolate Remix auf Youtube, bei Spotify führt [2][„Ni | |
una menos“] (nicht eine weniger) mit 2,2 Millionen Streams. | |
Die Themen sind für Reggaeton ungewöhnlich und andere Songs deutlich | |
bekannter. Videos von Karol G haben mehr als eine Milliarde Aufrufe. Der | |
Song „Despacito“ von Luis Fonso und Daddy Yankee ist sogar der am | |
zweithäufigsten gesehene Clip mit mehr als 8,5 Milliarden Klicks. Reggaeton | |
ist eine Mischung aus Reggae, Dancehall, Elementen von HipHop und Rap sowie | |
anderen lateinamerikanischen Einflüssen und elektronischer Musik. | |
In den Videos und auf Reggaetonpartys wird [3][viel und körperbetont] | |
getanzt. Ursprünglich übersetzten Gastarbeiter in Panama die englischen | |
Texte des Reggae ins Spanische, über Puerto Rico verbreitete sich die | |
Musik und liegt mittlerweile auch außerhalb Lateinamerikas groß im Trend. | |
Inhaltlich dreht sich alles um Sex, Liebe und große Gefühle, dazu der | |
markante Bumm-ka-bumm-bumm-ka-Beat, [4][Dembow („they bow“)] genannt. Der | |
Name verweist auf die homofeindlichen Ursprünge der Musik, regelmäßig | |
wird Reggaeton Sexismus sowie „Machismo“ vorgeworfen, Frauen würden als | |
Objekte abgewertet und traditionelle Geschlechterrollen betont – fast | |
ausnahmslos geht es um heterosexuelle Beziehungen zwischen Männern und | |
Frauen. | |
Romina Bernardo, wie Choco mit bürgerlichem Namen heißt, hat einen anderen | |
Ansatz. Die Producerin, DJ und Rapperin verbindet Reggaeton mit | |
queer-feministischen Themen und richtet sich auch an Männer. In „Lo que mas | |
mujeren quieren“ (Das, was Frauen wollen) rappt sie, dass zwei gut | |
platzierte Finger viel wichtiger seien als Größe und Härte. | |
## Lesbian Reggaeton | |
Ihre Texte handeln von Erotikfantasien zwischen Frauen. Deshalb gilt die | |
39-jährige Argentinierin als Begründerin des Lesbian Reggaeton, wenngleich | |
sie dem Magazin Lateinamerika Nachrichten erklärte, dass es feministische | |
Songs wie „Quiero bailar“ von Ive Queen schon früher gab, diese nur nicht | |
explizit als solche benannt wurden. Ihre Texte waren die ersten, mit denen | |
sich Choco identifizierte, sie sei „die Mutter“ des feministischen | |
Reggaetons, sagt sie der taz. | |
Mit dem Begriff Feminismus wusste auch sie selbst anfangs nichts | |
anzufangen. Sie wollte einfach nur Musik machen, in der auch ihre eigenen | |
sexuellen Vorlieben vorkommen und nicht nur die der anderen. Schon als | |
Jugendliche lief sie als Lesbe durchs Viertel. Trotzdem begann sie eher | |
zufällig, lesbischen Reggaeton zu machen. Sie erzählt von einem Auftritt | |
der argentinischen Band Kumbia Queers: „Wenn die schon queeren Cumbia | |
machen, warum kann ich dann nicht lesbischen Reggaeton machen?“ | |
Von Lisa M, einer lesbischen Rapperin und „Reggaetonera“, erfuhr sie später | |
und auch mit Feminismus setzte sich Choco erst im Zuge ihrer weiteren | |
musikalischen Entwicklung auseinander. Sie identifizierte sich zunehmend | |
als queer und sieht sich heute als Transfeministin. | |
Reggaetonbeats kombiniert mit Texten, die die Macho-Mentalität des Genres | |
attackieren, trafen einen Nerv, sodass die gelernte Programmiererin mit der | |
Musik weitermachte und dieses Jahr zum wiederholten Mal durch Europa tourt. | |
Musikalisch bewegen sich die Songs der in Buenos Aires lebenden Choco | |
zwischen Cumbia, Funk Carioca, Dembow und eben Reggaeton. | |
Der eingängige Sound füllt mittlerweile auch in Europa große Stadien, und | |
nicht nur bei männlichen Künstlern. Gerade erst war die Kolumbianerin Karol | |
G mit ihrem neuen Album auf Tour, all ihre Konzerte, auch die in Zürich, | |
Köln und Berlin, waren ausverkauft. Auf Spotify hat sie aktuell mehr | |
monatliche Hörer*innen als Katy Perry, Nicky Minaj oder Beyoncé, für die | |
große [5][spanische Zeitung El País] ist Karol G „die Stimme des | |
Empowerments der Frauen“. Selbst ihre männlichen Kollegen im Reggaeton – | |
Daddy Yankee und Peso Pluma – lässt sie hinter sich. | |
Chocolate Remix sucht man in diesen Sphären vergeblich, 2017 jedoch zählte | |
die BBC Romina Bernardo zu den 100 inspirierendsten Frauen der Welt. Ihre | |
Existenz als queere Person im Reggaeton und die Texte über lesbischen Sex | |
sind ein politisches Statement. | |
## „Milei ist ein Dummkopf“ | |
Politisch ist aber nicht nur ihre Sexualität: Die im Februar | |
veröffentlichte Single „Otario“ (Spanisch für Idiot oder Dummkopf) richtet | |
sich an den neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei und seine | |
Anhängerschaft. | |
Das Video zum Song nahm sie während der Proteste gegen das Wahlergebnis und | |
die angekündigten politischen Maßnahmen auf. Das Parlament stimmte im Juni | |
seinen Plänen zur Streichung von Sozialprogrammen und der Privatisierung | |
staatlicher Firmen zu, die Opposition sowie soziale Bewegungen befürchten | |
einen Anstieg der Armut im Land. | |
Das neue Album „Minga“ befasst sich mit den aktuellen politischen | |
Entwicklungen, trotzdem solle es Spaß und Humor verbreiten, denn die | |
Regierung wolle, „dass die schreckliche Situation, die wir in Bezug auf die | |
Wirtschaft und die Menschenrechte erleben, dazu führt, dass wir deprimiert | |
sind und uns ergeben. Aber wir werden ihnen nicht nachgeben.“ | |
In früheren Texten spielt auch die Frauenbewegung im Land eine Rolle. Der | |
Song „Ni una menos“ bezieht sich auf die Proteste gegen männliche Gewalt an | |
Frauen. Nach einer Vielzahl aufsehenerregender Femizide versammelten sich | |
2015 250.000 Menschen in Buenos Aires zu einer ersten Demonstration und | |
sagten „nicht eine weniger“. | |
In anderen Staaten Lateinamerikas gab es vergleichbare Bewegungen. [6][In | |
Videos] tanzen Frauen mit verbundenen Augen oder grünen oder lila Dreiecken | |
um den Hals zu Songs, die patriarchale Strukturen und die Rolle des Staates | |
anprangern. | |
Vor allem in spanischsprachigen Ländern ist „Ni una menos“ zu einem Symbol | |
weiblichen Widerstands gegen die abscheulichen Taten vieler Männer | |
geworden. Auf Konzerten von Choco sind ihre Wut und Energie greifbar, wenn | |
sie „nicht eine weniger“ schreit. Explosiv sind auch die Tanzeinlagen von | |
Choco und den Tänzerinnen, die mit ihr auf der Bühne stehen. | |
Sie geben ihre Performance des „Perreo“ zum Besten, ein Tanzstil, der dem | |
twerken im „Doggystyle“ ähnelt und in der sie ohne den männlichen | |
Gegenpart auskommen, an dessen Unterleib die Frau in klassischen | |
heterosexuellen Vorstellungen ihr Gesäß reibt. | |
Das ist als Ansage an Männer zu verstehen, im Sinne von „ich brauche dich | |
nicht, ich kann alleine Spaß haben, auch ohne deinen Penis“. Auf ihren | |
Konzerten spüre sie „Ungehemmtheit und Freiheit“, sagt sie der taz. „Wir | |
versuchen, meine Konzerte zu sicheren Räumen zu machen, in denen wir unsere | |
Erotik, unser Vergnügen, unsere Körper durch die Musik teilen können, ohne | |
Risiken eingehen zu müssen, weil wir queere Menschen oder Frauen sind.“ | |
Kritisiert wurde sie für die eng anliegenden Outfits, bei denen viel Haut | |
zu sehen ist, sowie für die derbe, vulgäre Sprache ihrer Texte. Auch Frauen | |
beklagten die weitere Sexualisierung von weiblichen Körpern, die sie zu | |
passiven Objekten mache. | |
## Kritik ist klassistisch | |
Dieser Kritik entgegnet Choco im Guardian: „Es ist großartig, dass wir | |
solche Dinge analysieren, aber am Ende schaffen wir nur mehr Tabus für | |
Sex.“ Sex sei etwas Tolles, man solle sich doch nicht von einer | |
patriarchalen Gesellschaft vorschreiben lassen, was erlaubt ist und was | |
nicht. | |
Für sie sei tanzen Ausdruck von Macht und Selbstbestimmung über den eigenen | |
Körper. Die Gegner der derben und vulgären Sprache ihrer Texte kämen vor | |
allem aus akademischen Kreisen. Die Sprache der Straße sei aber eine andere | |
als in der Uni und ja, sie hätten halt keine Anzughose und kein Hemd an. | |
Die Kritik trage Elemente von Klassismus in sich, bei der gebildete | |
Menschen den Straßenkids das richtige Benehmen vorschreiben wollen. Mit | |
anderen Vorwürfen setzt sich Choco ernsthafter auseinander. | |
Es sei kulturelle Aneignung, dass sie als weiße Frau mit Musik Geld | |
verdiene, deren Ursprünge auf afro-karibische und lateinamerikanische | |
Kulturen zurückgehen. Von dem Begriff hatte sie vorher noch nie etwas | |
gehört, gibt aber zu, dass [7][rassistische Vorstellungen in Argentinien] | |
und auch bei ihr vorhanden sind. | |
Sie sei sich dieser Problematik mittlerweile bewusst, kenne, respektiere | |
und verbreite die Ursprünge des Reggaeton und versuche, eine Stimme und | |
einen Standpunkt als queere Person einzubringen. „Ich fühle mich dieser | |
Musik viel näher als Genres, die eher mit klassischer oder traditioneller | |
europäischer Musik assoziiert werden.“ | |
Und wie kam es zum Namen Chocolate Remix? Er entstand in Anlehnung an den | |
Begriff „Torta“ (Torte), der in Argentinien für Lesben benutzt wird. Im | |
Studium war eine Schokoladentorte ihr Kennzeichen. Auf dem Cover ihres | |
ersten Albums „Sátira“ zeigt sich Choco in einem weißen Abendkleid, vom | |
Mund bis zum Dekolleté mit Schokolade beschmiert. | |
Den Erwartungen an eine Hochzeit widersetzt sie sich ganz offenbar – eine | |
Kampfansage an alle heteronormativen Vorstellungen (und Männer), die Frauen | |
in bestimmten Rollen sehen wollen. | |
ausstehende Konzerte in Deutschland: 15.8. Leipzig, 16.8. Bremen, 17.8. | |
Köln und 25.8. Bielefeld | |
12 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=5s3TFqChPYM | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=dNe23z088SY | |
[3] /Dekadenz-und-Lustfeindlichkeit/!5952054 | |
[4] https://www.theguardian.com/music/2013/nov/15/gay-clubbers-reclaim-dancehall | |
[5] https://elpais.com/america-colombia/branded/los-lideres-de-colombia/2023-12… | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=s5AAscy7qbI | |
[7] https://www.ila-web.de/ausgaben/416/wem-geh%C3%B6rt-der-reggaet%C3%B3n | |
## AUTOREN | |
Mika Backhaus | |
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