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# taz.de -- Kinotipp der Woche: Mit den Lebenslinien
> Der Dokumentarfilmer und Wende-Chronist Andreas Voigt wird 70 Jahre alt.
> Zu seinem Geburtstag zeigt das Filmmuseum Potsdam „Letztes Jahr Titanic“.
Bild: Dreharbeiten zu „Letztes Jahr Titanic“ mit Kameramann Sebastian Richt…
Als die DDR ihrem Ende entgegen ging, stiegen ihre Dokumentarfilmer_innen
in Züge. Helke Misselwitz befragte 1987/8 in [1][„Winter Adé“] Frauen nach
ihren Perspektiven auf die Gesellschaft, die sie umgibt. Der unlängst
verstorbene Ulrich Weiß machte 1991 per Zug einen „Abstecher“ nach
Wittenberg und zeigte die deutsch-deutsche Transformation in Gesprächen auf
dieser Fahrt. Und auch Andreas Voigt nähert sich in „Letztes Jahr Titanic“
seinem Schauplatz per Zug. Auf der Tonspur fordert eine Menschenmenge freie
Wahlen, feiert „Gorbi“ und gröhlt schließlich „Deutschland, einig
Vaterland“ und kurz zuckt man als Zuschauer von heute zusammen.
Voigts Film begleitet Menschen in Leipzig durch das Jahr 1990 – von der
Karnevalszeit, die zugleich die Zeit vor der ersten freien Volkskammerwahl
ist, über die Währungsunion bis zur Wiedervereinigung. „Letztes Jahr
Titanic“ feierte 1991 im Forum der Berlinale Premiere. Am 31. August zeigt
das Filmmuseum Potsdam den Film in Anwesenheit des Regisseurs aus Anlass
von dessen 70. Geburtstag.
„Letztes Jahr Titanic“ ist der [2][dritte von unterdessen sechs
Leipzig-Filmen], von denen vier in der Transformationszeit der 1990er Jahre
entstanden. Der [3][Vorgänger „Leipzig im Herbst“] dokumentierte die Zeit
der Montagsdemonstrationen in Leipzig 1989. Voigts Filme dokumentieren die
Ereignisse, wechseln zwischen Momentaufnahmen und Gesprächen, die der
Regisseur aus dem Off heraus führt.
Ein Motorradfahrer fährt zwischen leerstehenden Häusern auf und ab. Am
einen Ende seiner Piste steht eine Gruppe punkig aussehender Jugendlicher,
einige von ihnen sehen ihm zu. Wenig später drängt sich eine Gruppe
Menschen im Inneren des Hauses auf ein Sofa, eher links zwei junge Frauen,
die eine hält einen kleinen Koffer auf dem Schoß. Als sie den Koffer nach
einigem Bitten aufklappt, liegen ein paar Kassetten darin und etwas
Krimskrams. Im Deckel sind unter vier kleinen Stickern mit Männerköpfen
drei Aufkleber erkennbar: einer der Ölfirma BP und zwei Parteiaufkleber –
„Don't Worry Take Gysi“ und „Keine sozialistischen Experimente CDU“.
„Das sind ja zwei ganz verschiedene Aufkleber“, hakt Voigt aus dem Off
nach. „Das ist doch egal“, wirft die Sitznachbarin ein, der Mann rechts von
der Frau mit dem Koffer tippt auf den CDU Aufkleber und sagt „Das ist gut“,
die Frau selber sagt schließlich „Hauptsache Aufkleber“. Isabel, die junge
Frau mit dem Koffer, wird eine der Konstanten des Films sein. Wie viele der
Befragten schwankt sie zwischen Hoffnung und Unsicherheit.
Es zeichnet Voigts Film von heute aus gesehen aus, wie sehr zwischen die
Stimmen, die zögernd, um Sprache ringend nach einem Platz für sich selbst
in der sich konstituierenden Gesellschaft suchen, Stimmen drängen, die
ihren Platz einfordern, indem sie ihn anderen absprechen. Als Voigt im
ersten Drittel des Films drei Männer aus Mozambique filmt, die in einer
Kneipe Musik machen, protestiert ein Mann mittleren Alters, der Filmemacher
solle lieber die weißen Arbeiter filmen. Gegen Ausländer habe er natürlich
nichts. Wenig später erklingt in der Leipziger Innenstadt bei einer
Montagsdemonstration auf dem heutigen Augustplatz zwischen
Karnevalsklassikern die deutsche Nationalhymne, erste Strophe „Deutschland,
Deutschland über alles“.
„Letztes Jahr Titanic“ ist dank des Gespürs von Andreas Voigt vor gut 30
Jahren ein sehr dichter Film über eine Gesellschaft im Umbruch. Voigt nimmt
am Rand der Konzentration auf Protagonist_innen genug Momente mit, um von
heute auch jenseits des Interesses für Lebenslinien aus ein vielschichtiges
Dokument zu sein. Ergänzt wird der Film Ende August um Voigts Segment aus
dem Episodenfilm „Als wir die Zukunft waren“, in dem er autobiographische
Elemente, vor allem aus seiner Kindheit entfaltet. Der Abend Ende August
verspricht lehrreich zu werden.
28 Aug 2023
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## AUTOREN
Fabian Tietke
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