# taz.de -- Queer-Aktivist über LGBTQ-Bewegung: „Wir werden uns wehren“ | |
> David Mixner ist Queer-Aktivist der ersten Stunde und bei der Pride | |
> Amsterdam dabei. Über den Stand der Bewegung und große Rückschritte. | |
Bild: David Mixner bei einer Rede zur Ehrung von LGBTQ-Aktivist:innen | |
taz: Herr Mixner, hier in Amsterdam wehen gerade überall Regenbogenflaggen. | |
Nach 27 Jahren ist die Pride ein Massenspektakel, ein wichtiger Tag für die | |
Stadt. Wie sehen Sie als alter Haudegen die Lage? | |
David Mixner: Um Charles Dickens’ „A Tale of Two Cities“ zu zitieren: „… | |
was the best of times, it was the worst of times.“ Als ich begann, mich in | |
der Rainbow Community zu engagieren, wollten meine Eltern mich einweisen | |
und dachten daran, mich einer Lobotomie zu unterziehen. Ich erinnere mich, | |
dass in einem Jahr in Kalifornien 4.000 LGBTQ-Menschen eine Lobotomie | |
erhielten. | |
Heute kaum vorstellbar. | |
Es gab Polizeirazzien, man konnte nicht mal zusammen Abendessen gehen. | |
Heute dagegen können wir heiraten, adoptieren, Familien gründen oder am | |
Arbeitsplatz ein Bild unserer Partner*innen aufstellen. Es ist eine | |
dramatische Veränderung in einer kurzen Zeit. Eine der schnellsten | |
Verbesserungen der Rechte einer Gruppe, die es jemals gab. Einerseits. | |
Und andererseits? | |
Homophobie gab es unter dem Radar immer. In den USA gab Donald Trump den | |
Leuten Erlaubnis, sie öffentlich auszuleben. Das Ergebnis: eine dramatische | |
Zunahme der Hasskriminalität gegenüber der LGBTQ-Gemeinschaft um 30 bis 40 | |
Prozent, besonders gegenüber unseren Transgenderbrüdern und -schwestern. | |
Wir dürfen nicht an jeder Schule sagen, dass wir „gay“ sind. Homosexuelle | |
Eltern können als solche nicht bei Schultreffen auftreten. Wir werden | |
angegriffen, wie seit den 1970er Jahren nicht mehr. [1][Aber wir werden uns | |
wehren.] Ich weiß nicht, ob dieser Kampf je abgeschlossen sein wird. | |
Sie waren über sechs Jahrzehnte lang an allerlei sozialen Kämpfen | |
beteiligt, eine Art Intersektionalistavant la lettre. Sehen Sie diese | |
Entwicklung auch auf anderen Gebieten? | |
Es betrifft nicht nur die LGBTQ-Community. Wir sehen [2][offenen | |
Antisemitismus], offene Feindlichkeit gegenüber Einwanderung, alleine die | |
Worte „Black Lives Matter“ zu sagen, ist sehr politisch. Die Situation ist | |
so hässlich wie vielleicht seit dem Vietnamkrieg nicht mehr. Als habe sich | |
der Hass geoutet und flute den Diskurs der amerikanischen Gesellschaft. | |
Gerade was die Queercommunity betrifft, ist [3][der Zustand aber besonders | |
ambivalent]. Da gibt es eine Show wie „Ru Paul’s Drag Race“mit einem | |
Millionenpublikum. Andererseits wurde neulich, etwa hier in Amsterdam, die | |
Dragqueen Miss Envy Peru mitten in der Stadt von einer Gruppe junger Männer | |
angegriffen. | |
Nun, Erfolg verursacht Furcht. Je erfolgreicher Afro-Amerikaner*innen | |
wurden, desto mehr fühlten sich Weiße bedroht. Je erfolgreicher du bist, | |
desto sichtbarer bist du auch. Und das sehen wir nun auch bei Drag: In | |
Texas, Florida und Tennessee haben sie alle Dragshows verboten. Manche | |
Republikaner wollen es strafbar machen, wenn in den USA jemand ein Kind in | |
eine Dragshow hereinlässt. Dann kann man dafür verhaftet werden. Drag | |
begann mit Shakespeares Stücken, in denen Männer alle Frauenrollen | |
spielten. Es ist eine lange kulturelle Tradition, an der sich nie jemand | |
störte, selbst als wir in den 1980er und 1990er Jahren angegriffen wurden. | |
Jetzt gibt es Gouverneure wie Ron Abbott aus Texas oder [4][Ron DeSantis], | |
die auf dieses Thema setzen. Weil sie wissen, dass sie Dinge wie | |
homosexuelle Ehe und Adoption nicht ändern können. | |
Der Fokus, der nun auf Drag- und Genderthemen liegt, zeugt auch von einer | |
Verlagerung innerhalb der Bewegung. Wie blicken Sie darauf? | |
Ich musste den größten Teil meines Lebens hart dafür kämpfen, dass ein | |
Politiker auch nur das Wort „gay“ sagte, geschweige denn „LGBTQ+“. Desh… | |
musste ich zunächst lachen, wenn junge Leute sagten: „Wir sind genderfluid, | |
wir wollen nicht labeln.“ Es hat mich etwas Zeit gekostet, und dann lachte | |
ich, weil das ein Zeichen von Fortschritt ist. Wenn es Leute nicht mehr | |
interessiert, was du bist, bedeutet das, dass wir erfolgreich waren. | |
Die Entwicklung führt durchaus zu Konflikten, etwa wenn schwule Männer sich | |
abwertend über genderneutrale Toiletten äußern und aus diesem Anlass in | |
einen Anti-Woke-Chor mit einstimmen. | |
Veränderung erschreckt die Menschen. Ja, es gibt schwule Männer, die Trump- | |
oder DeSantis-Anhänger sind. Es sind ängstliche Leute, das müssen wir | |
verstehen. Ich habe Mitgefühl für sie. Wir müssen sie genauso befreien wie | |
alle anderen. Sie haben etwas, das ich „Unterdrückungskrankheit“ nenne: | |
Durch die Art, wie sie aufwuchsen, wollen sie so verzweifelt von allen | |
akzeptiert werden, dass sie so etwas tun. Und was die Transgendercommunity | |
anbelangt: Wenn eine(r) von uns diskriminiert wird, werden alle | |
diskriminiert. Niemand teilt uns! Im Übrigen sollten wir uns nicht | |
einbilden, Frauenrechte hätten nichts mit uns zu tun. Wenn sie | |
[5][Abtreibung illegalisieren], betrifft uns das! | |
Ist Ihnen bewusst, dass es selbst in Amsterdam, der selbsterklärten Gay | |
Capital, heute Eltern gibt, die ihre Kinder am Purple Friday, den | |
Bildungseinrichtungen in Solidarität mit der LGBTQ-Bewegung begehen, zu | |
Hause halten? | |
Ja, in den USA ist es das Gleiche. Wenn ich das höre, muss ich wirklich | |
innehalten. Holy fuck! Dass hier eine Dragqueen angegriffen wurde, ist ein | |
Warnsignal. Im Iran werden Mitglieder unserer Gemeinschaft aufgehängt, in | |
Uganda gibt es die Todesstrafe für Homosexuelle, vielerorts gibt es | |
lebenslange Haft. Dass es in Polen sogenannte LGBT-freie Zonen gibt, ist | |
sehr alarmierend. Amsterdam hat uns damals alle inspiriert, etwa mit der | |
ersten homosexuellen Hochzeit. Jetzt aber muss man als EU-Mitglied über die | |
Verfolgung in der EU reden. Es reicht nicht zu sagen: „Ich habe mein | |
Recht“, und dann alle zu ignorieren, die ihres nicht bekommen. Das ist | |
unmoralisch. | |
Hätten Sie einen solchen Backlash je erwartet? | |
Nein, aber er erinnert mich an die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft | |
durch die Geschichte hinweg. Der Hass liegt immer nur um die nächste Ecke, | |
es gibt immer eine Person oder eine Gruppe, die ihn von der Leine lässt. | |
Wir müssen immer auf der Hut bleiben, dürfen nie nachlässig werden. Das | |
gilt für jede Minderheit, die Hassverbrechen erfahren hat und verfolgt | |
wurde. Einfach ausgedrückt: Erfährt irgendjemand Unterdrückung und | |
Verfolgung und wird ihnen die Stimme genommen, haben wir die moralische | |
Verpflichtung, an ihrer Stelle zu sprechen. | |
Sie haben in diesem Interview oft gelacht. Welche Rolle spielt Humor für | |
Sie? | |
Humor dürfen wir nie verlieren, egal in welcher Situation. Lachen hat mich | |
durch Gefahren und Schmerzen gebracht. Humor war auch ein Weg, mit den | |
Todesdrohungen umzugehen, die ich am Telefon bekam, von weißen Männern, | |
betrunken, südlicher Akzent (imitiert): „Bist du David Mixner? Du | |
Schwuchtel, ich weiß, wo du wohnst. Ich komm und schieß dir deinen | |
Scheißkopf weg.“ Nach einer Weile antwortete ich auf so was: „Wow, das | |
klingt heiß. Willst du auf ein Date gehen?“ Sie legten sofort auf. | |
4 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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