# taz.de -- Neues Album von Japan Blues: Der Otaku mit dem Kegelhut | |
> Ist das kulturelle Aneignung oder eine Hommage? Der britische | |
> Musik-Archäologe Japan Blues widmet ein neues Album Nippons Musikkultur. | |
Bild: Lässt lieber die Musik sprechen, als sich zu erklären: Howard Williams … | |
Es ist wahrlich eine harte Nuss, in die Musik des englischen Produzenten | |
und Sammlers Japan Blues einzusteigen. Ein Stück wie „Sazanka, Hokkai Bon | |
Uta“ von seinem neuen Album „Japan Blues Meets The Dengie Hundred“, das d… | |
Auftakt des drei Stücke umfassenden Werks darstellt, ist ein komplexes | |
neunminütiges Gesamtkunstwerk, das auf wundersame Weise sampelt, mischt, | |
mit Pastiche- und Montage-Techniken arbeitet und vielschichtige Collagen | |
produziert. | |
Die Quellen scheinen den weltgewandten Hörenden nicht ganz unbekannt: Man | |
erkennt bisweilen die verschiedenen Versatzstücke und kann sie als | |
japanischen Schlager (namentlich: Minyo, im Besonderen auch Enka), als | |
Theatermusik, als Volksmusik, aber auch als Sample eines Laternentanzes | |
identifizieren. Dieser beziehungsreiche Arbeitsstil begeistert derzeit | |
viele Fans [1][von randständigem Pop und experimenteller Musik], sowohl in | |
der Heimat des Japan Blues, Großbritannien, als auch in Kontinentaleuropa. | |
## Stein des Anstoßes | |
Erst letztes Jahr erfreuten sich etliche Zuschauer*innen beim belgischen | |
Musikfestival Meakusma in Eupen an seinen multidimensionalen DJ-Sets, die | |
zwischen Musique Concrète, Ambient und Electronic Listening changierten. | |
Trotz des hohen Anspruchs, der mit der Komplexität der Musik einhergeht, | |
war der umgebaute Heuboden, auf dem Howard Williams als Japan Blues dort | |
seine Musik präsentierte, prall gefüllt. | |
Währenddessen wurde es draußen und am Rande des Festivals unruhig, denn die | |
Kopfbedeckung des Künstlers wurde zum Stein des Anstoßes. | |
Der britische Musiker trug nämlich einen asiatischen Kegelhut. Über den Hut | |
sollten sich über Stunden und Tage heiße Dispute entspinnen. Die durchweg | |
gut informierten und bisweilen besonders fachkundigen Besucher*innen | |
des Eupener Experimental-Biotops sind darüber hinaus notorisch | |
diskussionsfreudig: „Ist es nicht befremdlich, dass ein Europäer sich | |
dermaßen bei japanischer Kultur bedient?“ | |
## Immer neue Schätze bergen | |
Howard Williams ist seit etlichen Jahren nicht nur als Mitarbeiter beim | |
Londoner Label und Plattenladen Honest Jon’s international geachtet, | |
sondern auch als Musik-Archäologe, der wie Indiana Jones tief in Archive, | |
Höhlen und (Platten-)Kisten eintaucht, um immer neue Schätze zu bergen. | |
Neben seiner großen Expertise auf dem Feld der experimentellen, | |
poststrukturalistischen Klanguntersuchungen zwischen Cornelius Cardew und | |
dem europäischen Postpunk-Klima um 1981 hat sich primär eine große Nähe zur | |
japanischen Musik und zur gesamten Kultur des ost-asiatischen Inselstaats | |
herauskristallisiert. Für derlei Beschäftigungen, ob als DJ, Plattensammler | |
oder als Musiker, legte er sich vor einigen Jahren ein passendes Alias zu: | |
Japan Blues. | |
Williams kompiliert Vinyl-Sampler zu Funk, Rock’n’Roll, Surf und Eleki (von | |
„Electric Guitar“) aus Japan für sein eigenes Label Ethbo, aber auch für | |
andere Labels. Daneben spielt er seine Musik auf einem der begehrten | |
Sendeplätze beim Londoner Internet- und Community-Radio NTS; und auch dort | |
liefert er für geneigte Hörer:innen vor allen Dingen Fundstücke aus dem | |
Land der aufgehenden Sonne frei Haus. | |
Dies hat ihm unlängst den Ruf eines Otaku beschert: So werden Menschen | |
bezeichnet, die sich [2][obsessiv mit der japanischen Kultur beschäftigen] | |
– vor allen Dingen mit Anime und Manga. Doch auch ein Platten- und | |
Musik-Fetisch darf hier subsumiert werden. Während es in unseren | |
Breitengraden gelegentlich sogar als neutral gewendete Selbstbezeichnung | |
herhält, gleicht es gerade in Japan eher einer Herabwürdigung, als Otaku | |
tituliert zu werden. | |
## Es wurde viel gelästert | |
[3][Beim Meakusma-Festival in Eupen] fielen solche und andere Vorwürfe wie | |
Spott. Nicht das erste Mal, denn Japan Blues – stets verborgen hinter | |
volkstümlichen japanischen Masken – spaltet mit seinen Auftritten eine | |
Community, die einerseits von jeher offen für künstlerische Wagnisse ist, | |
in der aber die Kritik an kultureller Aneignung zu einem hohen Gut geworden | |
ist. | |
Das ist in der Regel eine löbliche Haltung, die doch verhindern soll, dass | |
die europäischen und US-amerikanischen Staaten, die von Kolonialismus | |
profitiert haben – und währenddessen Verbrechen wie Genozide und auch | |
kulturelle Zerstörung begangen haben – nicht noch in der Gegenwart die | |
Kulturproduktion der Länder aus dem globalen Süden ausbeuten und | |
abschöpfen. Dieses Phänomen des Neo-Kolonialismus ist in einer | |
globalisierten Welt immer wieder beobachtet worden. | |
Dementsprechend wurde schon lange in Hinterzimmern, aber nie offiziell über | |
Williams und sein Projekt Japan Blues gelästert. Öffentlich zitieren, dafür | |
möchte sich natürlich niemand hergeben. | |
## Der Vorwurf läuft ins Leere | |
Es lohnt sich in diesem Fall aber durchaus genauer hin zuschauen, denn der | |
Londoner macht es seinen Kritiker*innen gar nicht so leicht. Japan ist | |
selbst ein ehemaliger Kolonialstaat und damit nicht unbedingt klassisches | |
Ziel kultureller Aneignung – im Sinne von Ausbeutung. Folglich wäre der | |
Vorwurf des impliziten oder positiven Rassismus, wenn man denn unbedingt | |
einen erheben möchte, treffender. Doch auch dieser läuft ins Leere. Die | |
Lage ist im rechten Licht betrachtet vor allen Dingen eins: Genau das | |
Gegenteil dessen, was man Williams vorwirft. | |
Das zeigt sich nicht nur, aber besonders, wenn seine Aktivitäten bisweilen | |
ganz andere Wege verfolgen. [4][2018 hat er für das JWM-Label eine | |
grandiose Compilation zur Geschichte des Jiddischen in der Londoner | |
Musikgeschichte der Jahre 1920 bis 1950 zusammengestellt] und damit einer | |
fast vergessenen Community im East End ein Denkmal gesetzt. Da war | |
natürlich kein Sturm (im Wasserglas) zu vernehmen. | |
Darüber hinaus ist Williams' Auftreten sehr reflektiert, bisweilen sogar | |
ironisch kommentierend. Das merkt man nicht nur, wenn man seinen spärlichen | |
Interviews folgt, sondern lässt sich ebenso an Albumtiteln wie „Japan Blues | |
Sells His Record Collection“ ablesen. Hier wird die eigene Plattensammlung | |
als Ausgangspunkt markiert, sogar als eigentliches Hauptwerk identifiziert: | |
Sammeln wird zur künstlerischen Praxis per se. Dabei wurde schon damals auf | |
virtuose Weise Spur um Spur – und das ist an dieser Stelle bitte | |
doppeldeutig zu lesen – ineinander geschoben. Wer sich die bescheidene Zeit | |
genommen hat, um im Anschluss japanische Musiken zu studieren, war zwar | |
schlauer, aber wusste dennoch nicht, wie Japan Blues so geschickt und | |
grazil sampelt und mischt. | |
## Hier wird keine anonyme Kultur ausgebeutet | |
Das neue Album [5][„Japan Blues meets The Dengie Hundred“] ist wieder ein | |
vergnüglicher Trip in der dialektischen Klappermühle: Alt und neu, | |
vergangen und zart futuristisch, schemenhaft wie feststofflich. Es gibt | |
keine abgegrenzten Welten in dieser Musik, sondern das Gefundene wie das | |
Genuine bedingen sich bis zuletzt. Denn nicht alles ist gesampelt, vieles | |
basiert auf Aufnahmen, die Williams selbst 2018 mit den beiden Londoner | |
Sänger*innen Akari Mochizuki und Hibiki Ichikawa angefertigt hat. Hier | |
wird also keine mitunter anonyme Kultur ausgebeutet und nichts „zu Unrecht | |
in Besitz“ genommen, sondern Akteur:innen aus Japan werden direkt | |
eingebunden. Fürderhin vermengt Williams als Japan Blues diese Materialien | |
mit Field Recordings, die er selbst in Japan angefertigt hat. | |
Diese viskose Mischung lässt die Musik von Japan Blues so wahrlich | |
fantastisch klingen, wenngleich sie – das sei an dieser Stelle angemerkt – | |
ein experimentelles Paradestück bleibt: (Über-)Forderung gehört dazu, und | |
daher verbieten sich einfache Aussagen, Analysen oder gar Vorwürfe. Wer | |
etwas anderes behauptet, ist in seiner identitären Verbohrtheit auf dem | |
Holzweg. | |
21 Jul 2023 | |
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[1] /Japanische-Postpunk-Kuenstlerinnen/!5939140 | |
[2] /Experimentelle-Punkmusik-aus-Japan/!5921060 | |
[3] /Meakusma-Festival-in-Belgien/!5879015 | |
[4] /Compilation-mit-Yiddisher-Jazz/!5681327 | |
[5] https://japanblues.bandcamp.com/music | |
## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
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