# taz.de -- Nigerias steigende Preise: Es fehlt die Kraft zum Protestieren | |
> Verdreifachte Benzinpreise, mehr Armut: In Nigeria waren die | |
> Lebenshaltungskosten im Vergleich zu Nachbarländern stets hoch. Nun haben | |
> sie erneut zugelegt. | |
Bild: Folgen der hohen Preise: Gemüseanbau in Lagos unter einer Autobahnbrücke | |
LAGOS taz | Ein Mann läuft in weißem T-Shirt, abgetragenen Jeans und | |
schwarzen Badelatschen zügig durch die Straßen von Oworonshoki. Plötzlich | |
bleibt er stehen, stellt sich als Alfred vor und brüllt: „Willkommen in | |
Nigeria! Es ist ein verrücktes Land. Nirgendwo auf der Welt ist Benzin so | |
teuer wie hier!“ | |
Um ihn herum in dem Stadtviertel an der Lagune von Lagos schmunzeln | |
Passant:innen über seinen unvermittelten Wutausbruch. Der hagere Mann | |
spricht aus, [1][was Millionen Menschen in Nigerias Megastadt Lagos täglich | |
erleben]. Seit Ende der Benzinsubventionen Ende Juni haben sich die Preise | |
an Nigerias Zapfsäulen verdreifacht. Ein Liter kostet jetzt bis zu 617 | |
Naira, umgerechnet 0,70 Euro – nicht der höchste Benzinpreis der Welt, aber | |
der höchste in Nigerias Geschichte und sehr viel für ein Ölförderland, wo | |
das traditionell sehr billig war. | |
Die [2][Lebenshaltungskosten in Nigeria sind im Vergleich zu den | |
Nachbarländern stets hoch gewesen]. In Lagos war es einst üblich, am | |
Wochenende ins Nachbarland Benin, mitunter sogar bis ins 220 Kilometer | |
entfernte Togo zu fahren, um dort Obst, Gemüse und Getreide einzukaufen. | |
Nur Benzin blieb günstig. | |
Als vor elf Jahren Nigerias damaliger Präsident Goodluck Jonathan die | |
Benzinpreise von 65 auf 150 Naira mehr als verdoppeln wollte, legten | |
Gewerkschaften und Zivilgesellschaft das Land mit einem nie dagewesenen | |
Generalstreik lahm. Der subventionierte Preis wurde schließlich auf 97 | |
Naira festgelegt, immer noch sehr günstig. Jetzt fällt tatsächlich mit dem | |
Ende der Subvention ein Relikt aus den 1970er Jahren weg, als Nigeria zur | |
Ölgroßmacht aufstieg und eines der wohlhabendsten Länder Afrikas war. | |
## Nicht mal zwei Brote für 1.000 Naira | |
Die Straßen von Lagos, wo rund 20 Millionen Menschen leben, sind nun selbst | |
in der Stoßzeit am späten Nachmittag ungewohnt leer. Das gilt auch für die | |
Tankstellen, vor denen sich vor allem in Zeiten von Benzinknappheit – | |
Nigeria importiert sein Benzin, weil die eigenen Ölraffinerien nicht | |
funktionieren – manchmal Hunderte Meter lange Schlangen bildeten. Es will | |
niemand mehr tanken: zu teuer. | |
Sebastian Okeke ist Taxifahrer, der seine Kundschaft über die App Bolt | |
findet. „Die Preise sind so hoch, dass viele Menschen lieber zu Hause | |
bleiben. Ich brauche viel Geld, um überhaupt tanken zu fahren.“ Zwar sind | |
die Fahrpreise ebenfalls gestiegen, aber das decke die zusätzlichen Kosten | |
nicht. „Alle klagen, dass es so teuer geworden ist.“ | |
Die Zahl der Menschen in Armut steigt. Nach Angaben der Zentralbank CBN | |
liegt Nigerias Inflation bei knapp 23 Prozent. Der staatliche Mindestlohn | |
ist aber seit Jahren mit 30.000 Naira unverändert – das sind heute, nach | |
einem deutlichen Verfall der Landeswährung, gerade noch 34 Euro. Das Gehalt | |
eines staatlichen Grundschullehrers ist nur wenig höher, Putzfrauen und | |
Fahrer verdienen vielleicht das Doppelte. | |
Mit 1.000 Naira kann man nicht einmal mehr zwei Brote kaufen; sechs bis | |
sieben Tomaten kosten aktuell 500 Naira, umgerechnet 0,57 Euro. Gemüse, | |
Obst und Getreide werden mitunter Hunderte Kilometer entfernt angebaut, der | |
Weg nach Lagos ist lang und teuer. | |
Adedoyin Aganlekoko ist 54 Jahre alt und hat fünf Kinder, aber keinen Mann | |
mehr. „Ich bin Witwe und kämpfe jeden Tag, damit ich Lebensmittel und | |
Schulgebühren zahlen kann“, erzählt sie. Wenn sie irgendwo hin muss, geht | |
sie zu Fuß, um jeden Naira zu sparen. | |
Gemeinsam mit einer Gruppe von Frauen hat sie in Oworonshoki begonnen, | |
unter einer Stadtautobahnbrücke Tomaten, Kurkuma, Wassermelonen und Chili | |
anzubauen. Das geschieht in Plastiksäcken, um die Bewässerung einfach zu | |
halten. Erfahrung im Gemüseanbau hat keine von ihnen. Alle eint die | |
Hoffnung, mittelfristig weniger für Lebensmittel auszugeben. Sie haben | |
zusammengelegt, um Gießkannen, Saatgut und Säcke zu kaufen. „Die Regierung | |
unterstützt uns doch nicht. Wir müssen selbst etwas tun.“ | |
## Den Staat entlasten | |
Das Ende der Subvention beschloss Nigerias Parlament schon lange vor den | |
Wahlen im Februar. Es soll damit der Staatshaushalt entlastet werden. Nach | |
Angaben der staatlichen Ölgesellschaft NNPC vom Januar gab die Regierung | |
2022 9,7 Milliarden US-Dollar für Benzinsubventionen aus. Kurz darauf | |
prognostizierte Finanzministerin Zainab Ahmed, dass für die erste | |
Jahreshälfte 2023 7,5 Milliarden US-Dollar nötig seien. Das Geld soll nun | |
anderweitig genutzt werden. Mitte Juli wurde allerdings bekannt, dass im | |
Nachtragshaushalt umgerechnet knapp 80 Millionen Euro für neu gewählte | |
Abgeordnete veranschlagt sind, um ihre Büros auszustatten. | |
Das Büro von Raymond Anoliefo liegt im Stadtteil Yaba mitten in Lagos. Er | |
ist Leiter des Caritas-Komitees für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden | |
in der Erzdiözese Lagos sowie Priester einer katholischen Kirchengemeinde. | |
Täglich kommen Menschen zu ihm, die ihre Rechnungen nicht mehr zahlen | |
können und kaum noch Geld für Lebensmittel haben. | |
Vor der Wahl im Februar, so Anoliefo, hätten sich alle drei landesweit | |
bekannten Spitzenkandidaten für das Ende der Subventionen ausgesprochen. | |
„Trotzdem fehlt es an Programmen, um diese zu kompensieren.“ Auch im | |
Wahlkampf hätten Wähler:innen verstärkt danach fragen müssen. | |
[3][Präsident Bola Tinubu] hat mittlerweile Farmern zugesagt, sie mit | |
Düngemitteln und Getreide zu unterstützen. | |
Was im Land angebaut wird, reicht aber ohnehin nicht für Nigerias 220 | |
Millionen Einwohner:innen. Nach Angaben des NBS wurden vergangenes Jahr | |
Lebensmittel für umgerechnet knapp 2,2 Milliarden Euro importiert. | |
Ausgerechnet jetzt erlebt der Naira ein Rekordtief. | |
Lag der Wechselkurs bei seiner Einführung im Jahr 1973 zeitweilig bei 2:1 | |
zum US-Dollar, sind es aktuell 792:1; ein Euro ist 875 Naira wert. Das | |
hängt auch mit der Suspendierung des Zentralbankchefs Godwin Emefiele | |
zusammen. Lange soll der Naira-Wert künstlich in die Höhe getrieben worden | |
sein. Der Industrieverband MAN warnte schon vor Wochen vor Problemen: Die | |
Einfuhr von Baumaterialien etwa verteuere sich. | |
Proteste gegen die Preisexplosion sind, anders als früher, ausgeblieben. | |
Für Proteste reicht die Energie der Leute nicht mehr. Doch könnte sich | |
künftig die Sicherheitslage weiter verschlechtern und es zu mehr Einbrüchen | |
und Überfällen kommen, befürchtet in Yaba der katholische Priester Raymond | |
Anoliefo. „Die Reichen sind durch Mauern und Zäune geschützt oder können | |
ins Ausland gehen. Nicht aber jene, die selbst nicht viel haben.“ | |
26 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
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