# taz.de -- Säuglingsmord in Irland: Die Abgründe des Katholizismus | |
> Der Tod von Baby John beschäftigt Irland seit fast vier Jahrzehnten. Der | |
> Fall zeigt auch, wie sehr katholische Moralvorstellungen Frauen | |
> schadeten. | |
Bild: Das Abtreibungsverbot war in der Verfassung verankert, nicht selten wurde… | |
DUBLIN taz | Baby John ist in [1][Irland] wieder in den Schlagzeilen. Vor | |
fast 40 Jahren, am 14. April 1984, hatte man den Leichnam des drei Tage | |
alten [2][Säuglings] am Strand von Cahersiveen im Südwesten der Grünen | |
Insel gefunden. Er wies 28 Stichwunden auf und sein Genick war gebrochen. | |
Dank neuer DNS-Analysen, die damals noch nicht zur Verfügung standen, hat | |
man jetzt die Eltern ausfindig gemacht. Ein 61-Jähriger und eine 59-Jährige | |
wurden verhaftet, sind aber inzwischen wieder frei. | |
Es waren andere Zeiten damals. Ehescheidung war verboten, Verhütungsmittel | |
gab es nur auf ärztliches Rezept, das [3][Abtreibungsverbot] war in der | |
Verfassung verankert, Vergewaltigung in der Ehe war kein Verbrechen, ledige | |
Mütter wurden manchmal in Klöstern weggesperrt, im Parlament saßen fast nur | |
Männer, Homosexualität wurde mit Gefängnis bestraft. Die katholische Kirche | |
regierte, und die Politiker spielten mit. | |
Nicht selten wurden tote Babys gefunden. Junge Mädchen, die ungewollt | |
schwanger geworden waren, wussten oft keinen anderen Ausweg, als die Kinder | |
aus Angst vor der Familie und der Kirche im Moor, im Steinbruch oder im | |
Mülleimer zu entsorgen, wenn sie nicht selbst starben, so wie die | |
15-jährige Ann Lovett, die im Januar 1984 ihr Kind heimlich in einer | |
Mariengrotte geboren hatte und verblutet war. | |
## Von Polizei zum Geständnis gedrängt | |
Nachdem Baby John gefunden worden war, stellte die Polizei in den | |
Krankenhäusern und Arztpraxen der Gegend Nachforschungen an und stieß auf | |
Joanne Hayes, die offenbar schwanger gewesen war, aber kein Baby vorweisen | |
konnte. Hayes lebte mit ihrer Mutter, einer Schwester, zwei Brüdern und | |
ihrer älteren Tochter Yvonne auf dem Bauernhof ihrer Tante. Man verhörte | |
die Erwachsenen tagelang, bis sie das vorformulierte Geständnis | |
unterschrieben: Hayes habe ihr Baby umgebracht, und man habe ihr geholfen, | |
den Leichnam am Strand zu deponieren. | |
Doch dann änderte Hayes ihre Aussage: Sie habe einen Jungen namens Shane | |
zur Welt gebracht, aber er sei kurz nach der Geburt gestorben. Sie habe ihn | |
auf dem Bauernhof beerdigt. Dort fanden die Polizisten ihn auch, aber nun | |
hatten sie zwei tote Babys und ein Problem. Sie lösten es auf ihre Art, | |
indem sie behaupteten, Hayes habe Zwillinge zur Welt gebracht. | |
Sie habe Shane auf der Farm vergraben, dann habe sie John getötet und am 80 | |
Kilometer entfernten Strand entsorgt. Die Polizisten ließen sich auch nicht | |
durch die Tatsache beirren, dass Johns Blutgruppe weder zu Hayes, noch zum | |
Vater von Shane passte. Die Beamten erklärten das mit Superfekundation – | |
zweieiige Zwillinge mit unterschiedlichen Vätern. | |
Als diese Theorie zunehmend bröckelte, erfand die Polizei ein drittes Baby, | |
das genau wie Baby John umgebracht worden sei und noch immer irgendwo im | |
Atlantik schwimme. Schließlich hatte man ja die Geständnisse der Familie | |
Hayes. Die aber widerriefen ihre Aussagen und erklärten, die Polizisten | |
hätten Druck ausgeübt und sie misshandelt. | |
## Tribunal glich mittelalterlichen Hexenprozess | |
Im Oktober 1984 wurde die Mordanklage schließlich fallengelassen. Die | |
Regierung leitete ein Tribunal ein, um herauszufinden, wie es zu den | |
falschen Anklagen gekommen war. Dieses „Kerry Babies Tribunal“ unter | |
Vorsitz des Richters Kevin Lynch erinnerte an mittelalterliche | |
Hexenprozesse. Hayes wurde fünf Tage lang in ein Kreuzverhör genommen, das | |
mehrmals unterbrochen wurde, weil Hayes, die der Amtsarzt mit | |
Beruhigungsmitteln vollgepumpt hatte, sich übergeben musste. | |
Hochrangige Polizeibeamte, die als Zeugen geladen waren, beschrieben Hayes | |
als „loses Frauenzimmer“ ohne moralische Werte, die Männer in den Abgrund | |
zog. Lynch bezichtigte Hayes, sie habe den verheirateten Mann verführt und | |
ihren Sohn Shane dann getötet. Man stellte Hayes mehr als 2.000 Fragen, bei | |
denen es vor allem um ihre sexuellen Aktivitäten ging. Das Tribunal war zu | |
einem Prozess gegen Hayes und ihren Verstoß gegen die katholischen | |
Moralvorstellungen geworden. | |
Die Frauen aus Hayes’ Wohnort Abbeydorney, die sich mit ihr solidarisierten | |
und vor dem Gerichtsgebäude protestierten, beschimpfte der Richter als | |
„lärmende, ignorante Stadtbewohner“ und drohte ihnen mit Gefängnis. Der | |
Polizei bescheinigte Lynch hingegen tadelloses Verhalten. Erst 2020 | |
entschuldigte sich die Regierung bei Joanne Hayes und ihrer Familie und | |
zahlte eine Entschädigung. | |
## Irlands Frauen glauben nicht an das irische Justizsystem | |
Mary McAuliffe, Historikerin und Direktorin des Gender Studies Programme am | |
University College Dublin, schrieb auf Twitter: „Restaurative Justice und | |
Entschuldigungen bei Frauen sind inzwischen regelmäßige Ereignisse in | |
diesem Land, aber sie kommen oft tröpfchenweise, widerwillig und | |
unvollständig.“ | |
Die linke Partei People Before Profit schreibt in einer Presseerklärung: | |
„Es ist ja keine Überraschung, dass Irlands Frauen nicht an das irische | |
Justizsystem glauben. Eine neue Untersuchung der Universität Cork hat | |
ergeben, dass 57 Prozent der Frauen, die Opfer von Stalking oder sexueller | |
Belästigung wurden, nicht zur Polizei gegangen sind.“ | |
Die schlechten Erfahrungen mit der Polizei und der Justiz überwogen bei | |
Weitem die positiven Erfahrungen, heißt es in der Untersuchung. In vielen | |
Fällen gab die Polizei den Frauen die Schuld. Zwar habe sich der Staat | |
endlich bei Joanne Hayes entschuldigt, aber die Politiker seien immer noch | |
nicht gegen die zutiefst sexistische Kultur im Justizwesen angegangen. | |
## Den Sprung ins 21. Jahrhundert geschafft | |
Irland hat zwar in kürzester Zeit den Sprung vom 19. ins 21. Jahrhundert | |
geschafft und durch Volksentscheide [4][Homosexualität entkriminalisiert], | |
den Tatbestand der Blasphemie abgeschafft, gleichgeschlechtliche Ehen und | |
[5][Abtreibung legalisiert], aber die Sache ist noch nicht ausgestanden. | |
Es laufen immer noch mehrere Untersuchungen, zum Beispiel zu den | |
katholischen „Mütter-und-Baby-Heimen“, wo unverheiratete Frauen ihre Kinder | |
zur Welt brachten, die ihnen sofort weggenommen und an US-Paare verkauft | |
wurden. Eine andere Untersuchung beschäftigt sich mit dem Fund von | |
Hunderten Kinderskeletten in einem Abwassertank eines katholischen | |
Kinderheims. Und dann sind da auch die sogenannten Magdalenen-Mädchen, die | |
für die Nonnen schuften mussten. | |
Irlands Frauen haben den Kampf noch lange nicht gewonnen, und auch Baby | |
John ist noch keine Gerechtigkeit widerfahren. Im Jahr 2021 öffnete die | |
Polizei sein Grab und entnahm eine neue DNS-Probe. Die wurde mit der DNS | |
von 40 Menschen aus Cahersiveen, die ihre Proben freiwillig abgegeben | |
hatten, verglichen. Das führte schließlich zu den Eltern von Baby John. | |
Aber haben sie den Säugling auch getötet? Bisher haben sie keine Aussage | |
gemacht, und die Staatsanwaltschaft hat bisher keine Anklage erhoben. Ihr | |
Anwalt berichtete von einem mysteriösen Bekannten der Eltern, der vor fünf | |
Jahren verstorben sei. Er habe sich zu der Zeit des Mordes in der Gegend | |
aufgehalten. Was dieser Bekannte für eine neue Wendung im Fall von Baby | |
John bedeutet, ist Teil der Ermittlungen. | |
22 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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