# taz.de -- Historiker über Säuglingsheime: „Jeder wusste, dass es sie gibt… | |
> Die Geschichte der Säuglingsheime in Deutschland ist dramatisch, sagt | |
> Historiker Felix Berth. Eine Million Kinder in Ost und West waren sich | |
> nahezu selbst überlassen. | |
Bild: Eine Schwester, viele Kinder: Säuglingsheim im bayerischen Tutzing Ende … | |
wochentaz: Herr Berth, sind Säuglingsheime der größte Irrweg der | |
Sozialpolitik? | |
Felix Berth: Sagen wir mal so: Es gibt in der Geschichte des Sozialstaats | |
nicht viele Einrichtungen, die komplett verschwunden sind. Eher erleben wir | |
über die Jahrzehnte ein starkes Wachstum bei Kitas, Altersheimen, | |
Krankenhäusern. Und Institutionen, die einmal entstanden sind, haben immer | |
eine gewisse Beharrungskraft. Die Säuglingsheime wurden aber irgendwann als | |
so problematisch empfunden, dass sie nicht reformiert, sondern abgeschafft | |
wurden. | |
Sie wurden nicht nur abgeschafft, sondern auch vergessen. So liest sich | |
zumindest der Titel Ihres Buches. | |
Ich komme in meinen Berechnungen darauf, dass von 1950 bis 1990 mindestens | |
eine Million Kinder in Säuglingsheimen der Bundesrepublik und der DDR | |
untergebracht waren. Verglichen damit ist die gesellschaftliche Debatte | |
sehr leise. Es gibt bisher fast keine Publikationen, und ich merke an der | |
Resonanz von Betroffenen auf das Buch, wie viel Bedarf da noch ist. | |
Die [1][Aufarbeitung der Heimerziehung] ist dagegen seit rund 15 Jahren in | |
vollem Gange … | |
Die Säuglingsheime sind ein Sonderfall, das waren Einrichtungen für Kinder | |
von null bis drei Jahren. An diese Zeit hat man später nahezu keine | |
Erinnerungen mehr. Die Betroffenen wissen teilweise nicht einmal, wo das | |
Heim war, in dem sie untergebracht waren. Auch deshalb spielen die | |
Säuglingsheime bei der Aufarbeitung, die ja stark von den Betroffenen | |
vorangetrieben wird, bislang keine große Rolle. Und die Institutionen, die | |
diese Heime betrieben haben, sind auch nicht unbedingt scharf auf | |
historische Analysen. | |
Wie verbreitet waren Säuglingsheime? | |
Zu Beginn der 1960er Jahre war das nächste Säuglingsheim sowohl in der DDR | |
als auch in der Bundesrepublik immer nur ein paar Kilometer weg. Ich dachte | |
zu Beginn meiner Forschung, das sei ein Nachkriegsphänomen. Aber in diesen | |
Heimen lebten keine Waisenkinder, sondern zu großen Teilen Kinder von | |
ledigen Müttern; zu einem kleinen Teil waren es Kinder, die wir heute als | |
Kinderschutzfälle bezeichnen würden. Damals existierten ungefähr 400 | |
Säuglingsheime in Westdeutschland und 200 in Ostdeutschland. Jeder wusste, | |
dass es sie gibt, und man musste auch nicht erläutern, was ein | |
Säuglingsheim ist. Das zeigen auch die Zeitungsartikel aus dieser Zeit. | |
Wie der Artikel von 1952 über Eltern, die ihr Baby für wenige Tage im | |
Säuglingsheim abgeben, um in den Skiurlaub zu fahren. | |
Diese Fälle waren selten, aber es gab sie. | |
Der Gedanke war verbreitet: Na klar kann man ein wenige Wochen altes Kind | |
in einem Heim unterbringen? | |
Ich weiß, das ist für uns kaum nachvollziehbar, weil wir heute die Konzepte | |
der Bindungstheorie inhaliert haben: Säuglinge und Kleinkinder brauchen | |
liebevolle Zuwendung von einigen wenigen erwachsenen Bezugspersonen. Damals | |
gab es die Vorstellung: Säuglinge sind kleine Tyrannen. Sie müssen | |
diszipliniert werden, müssen mit Härte dazu gebracht werden, dass sie alle | |
drei Stunden trinken, regelmäßig schlafen und pünktlich in die Windeln | |
machen. Wenn das die vorherrschende Überzeugung ist, dann kann man | |
natürlich sagen, okay, dafür ist auch ein Säuglingsheim geeignet. Heute | |
würden wir sagen: Es ist ein Desaster. | |
Was hätte mich als unangemeldete Besucherin in so einem Heim erwartet? | |
Erst mal wären Sie gar nicht eingelassen worden, weil die Sorge war, dass | |
Sie irgendwelche Krankheitskeime mitbringen. Nach der Erfahrung der hohen | |
Sterblichkeit in Kinderkrankenhäusern im 19. Jahrhundert lag auf Sauberkeit | |
ein ganz großer Fokus. Putzen war die Hauptbetätigung des Personals. | |
Und wo waren die Kinder? | |
Die Kleinsten lagen in Gitterbettchen, oft 20 in einem Raum. Die Größeren, | |
die sich schon ein bisschen bewegen konnten, wurden Rutscher genannt und | |
waren alle in einem anderen Zimmer. Es gab keine aktive Beschäftigung, kein | |
Spielen mit diesen Kindern. Oft standen oder saßen sie einfach rum, haben | |
diese typischen Körperbewegungen gemacht, ein Schaukeln des Kopfs oder des | |
Oberkörpers, was wir als Hospitalismus kennen. Und wenn man sich vorstellt, | |
wie das Füttern oder Baden ablief, dann wird es noch deutlicher. | |
Wie lief das denn ab? | |
Damals war es üblich, Kinder einmal am Tag zu baden. Aus Zeitmangel wurde | |
das manchmal arbeitsteilig organisiert: Die erste Schwester hat das Kind | |
ausgezogen und der zweiten Schwester gegeben, die es dann ins Bad gelegt, | |
wieder rausgenommen und der dritten Schwester gegeben hat, die das Kind | |
wieder angezogen hat. Beim Füttern wurden die Säuglinge oft nicht auf den | |
Arm genommen, sondern im Bett stabilisiert, die Flasche etwas erhöht | |
platziert – und dann weiter zum nächsten Kind. | |
Im Grunde lagen die Säuglinge also die meiste Zeit des Tages einfach in | |
ihrem Bett? | |
Eine Wissenschaftlerin hat das damals in mehreren Einrichtungen mit der | |
Stoppuhr gemessen: 23 von 24 Stunden waren die Säuglinge komplett sich | |
selbst überlassen. | |
Wann war klar, dass das für Kinder nicht gut sein kann? | |
Schon während des Zweiten Weltkriegs gab es in Großbritannien und den USA | |
Untersuchungen zu Hospitalismus, und die ersten Ideen der Bindungstheorie | |
entstanden damals. In den 1950ern gab es daran anknüpfend sowohl in der | |
Bundesrepublik als auch in der DDR Untersuchungen in Säuglingsheimen. Die | |
Ergebnisse waren ganz eindeutig: Diese Kinder bleiben in allen | |
Entwicklungsdimensionen massiv zurück, und zwar je länger sie in einem | |
Säuglingsheim waren, umso mehr. | |
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Kinder oft nicht als Babys sondern erst | |
nach dem Säuglingsheim in eine Pflegefamilie kamen. | |
Das war ein Konzept vor allem bei Adoptionen: Neue Eltern sollten sich | |
nicht mehr viel mit der Sauberkeitserziehung herumschlagen müssen. | |
Tatsächlich kamen diese Kinder aber häufig bald wieder ins Heim, weil es in | |
den Familien überhaupt nicht funktionierte. Sie konnten vielleicht aufs | |
Töpfchen gehen, waren aber ansonsten überhaupt nicht so, wie sich das die | |
Pflege- oder Adoptiveltern vorgestellt hatten. Sie waren zum Beispiel oft | |
nicht anhänglich und konnten nur wenig sprechen. | |
Und trotz dieser Beobachtungen gab es die allermeisten Säuglingsheime noch | |
Anfang der 1960er Jahre. | |
Erst in den sechziger Jahren sickerte das Wissen aus dem wissenschaftlichen | |
Diskurs in die Praxis der Jugendämter. Die haben allmählich immer weniger | |
Kinder in Säuglingsheime eingewiesen. In der breiten Öffentlichkeit dauerte | |
dieser Wandel der Vorstellungen von „guter“ Kindheit noch länger: Der erste | |
massenmediale Artikel über die [2][Bindungstheorie] erschien in der | |
Bundesrepublik 1967 in der damals neugegründeten Zeitschrift Eltern. Das | |
war eine Art Lernprozess. | |
War die Idee, dass kleine Kinder unbedingt und immer die Mutter brauchen, | |
dann der bundesdeutsche Gegenentwurf zu den Säuglingsheimen? | |
Dafür war die Aufmerksamkeit für die Säuglingsheime zu klein. Sie sind bis | |
Anfang der Siebziger einfach allmählich verschwunden. Ohne großen | |
Aufschrei. | |
Und wie war es in der DDR? | |
Die Müttererwerbstätigkeit stand in der DDR ganz weit oben, und es wurde in | |
den sechziger Jahren die politische Entscheidung gefällt, dass in | |
Säuglingsheimen nicht weiter geforscht wird und dass die Probleme nicht | |
weiter thematisiert werden. Noch 1989 gab es 5.000 Plätze in | |
DDR-Säuglingsheimen. | |
Was passierte mit den Kindern, die zu der Zeit noch dort lebten? | |
In der historischen Forschung wissen wir das noch nicht. Möglicherweise | |
kamen viele dieser Kinder – wie in den sechziger Jahren im Westen – zurück | |
zu ihren Müttern, die dann besser unterstützt wurden. Klar ist jedenfalls, | |
dass die DDR-Säuglingsheime 1990 sehr schnell geschlossen wurden. | |
Kann man davon ausgehen, dass sich eine Lebensgeschichte, die in einem | |
Säuglingsheim begonnen hat, problematisch fortsetzt? | |
Es spielt eine Rolle, wie lange man dort war und welche Pflege und | |
Betreuung man erlebt hat. Es gab in solchen Heimen beispielsweise immer | |
auch Lieblingskinder: Eines von 20 Kindern wurde von einer Pflegerin dann | |
doch besser umsorgt und hatte perspektivisch ein bisschen bessere | |
Möglichkeiten. Ich habe inzwischen mit etlichen Betroffenen gesprochen, und | |
manche sagen, die Heimzeit war okay für mich. Aber die Wahrscheinlichkeit, | |
dass das weitere Leben davon belastet sein wird, ist natürlich trotzdem | |
hoch. | |
Im Geiste der Säuglingsheime gab es noch andere Ideen von Fremdbetreuung: | |
Die [3][Kinderverschickung in der Bundesrepublik] zum Beispiel, bei der | |
auch Kleinkinder noch bis in die 1980er wochenlang zur Kur geschickt | |
wurden. Oder Wochenkrippen in der DDR, in die erwerbstätige Eltern oder | |
Student*innen ihre Kinder von Montag bis Samstag abgaben. | |
Daran sieht man auch, wie ähnlich ein Leitsatz in beiden Staaten war: „Man | |
kann Säuglinge und Kleinkinder, ohne dass sie das gefährdet, für eine | |
längere Zeit von ihren Eltern trennen. Die können sich ja später nicht | |
daran erinnern.“ Das Bild einer verletzlichen frühen Kindheit hat diesen | |
Leitsatz erst langsam abgelöst. | |
Werden Historiker*innen in 50 Jahren auch über uns sagen: Was haben | |
die bloß mit ihren Kindern gemacht? | |
Kindheitsvorstellungen unterliegen historisch betrachtet einem starken | |
Wandel – die Geschichte der Säuglingsheime zeigt das auf besonders | |
dramatische Weise. Dass unser Bild von heute in 20 oder sogar 50 Jahren | |
auch noch als richtig gilt, würde ich eigentlich ausschließen. | |
4 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Heimerziehung-in-der-DDR/!5753391 | |
[2] /Positive-Bindungen-fuer-Kinder/!5138114 | |
[3] /Kuraufenthalte-von-Kindern/!5818643 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
## TAGS | |
Kindererziehung | |
DDR | |
Heimerziehung | |
Babys | |
Kinderverschickung | |
Petition der Woche | |
Kur | |
Gewalt gegen Kinder | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Journalistin über Kinderverschickung: „Man hätte die Akten finden können“ | |
Die Kinderverschickungen in BRD und DDR haben viele Betroffene | |
traumatisiert. Lena Gilhaus hat ein Buch und einen Film dazu gemacht. | |
Petition der Woche: Wer übernimmt die Verantwortung? | |
Von den 50ern bis in die 80er wurden in BRD und DDR Millionen Kinder in Kur | |
geschickt, viele erfuhren dort Gewalt. Eine Petition fordert Aufarbeitung. | |
Kinderkuren in der DDR: Am Anfang war die Tat | |
Was im Westen die Kinderverschickung war, hieß in der DDR Kinderkur. Viele | |
erlebten dort sexualisierte Gewalt. Geglaubt hat ihnen lange niemand. | |
Autorin über Verschickungskinder: ,,Die Kinder erlebten dort Gewalt“ | |
In den 50er bis 90er Jahren wurden Kinder zu oft traumatisierenden | |
Kuraufenthalten geschickt. Manche hätten das nie verwunden, sagt Anja Röhl. |