# taz.de -- Krise bei der Linkspartei: Vor der Spaltung | |
> Lange hat die Linke gebraucht, um mit Wagenknecht zu brechen. Deren | |
> Anhänger werben für die Abspaltung, die anderen rücken zusammen. | |
Bild: Was kommt, wenn Wagenknecht verschwindet? | |
Wenigstens ihren Zweckoptimismus hat die Linke noch nicht verloren. „Unser | |
Plan 2025: Comeback einer starken LINKEN“, ist das Strategiepapier | |
überschrieben, das der Bundesvorstand der zerzausten Partei auf seiner | |
letzten Sitzung beschlossen hat. Der erste Satz: „Die LINKE wird dringend | |
gebraucht.“ Der letzte Satz: „Wir ziehen souverän wieder in den Bundestag | |
ein.“ Klingt eigentlich ganz einfach. Allerdings stehen zwischen dem ersten | |
und dem letzten Satz mehr als 9.000 Zeichen – und ein übergroßer Berg an | |
Problemen, die in einem Namen kulminieren: Sahra Wagenknecht. | |
Die Linke hat lange gebraucht, um zu begreifen, dass es keinen gemeinsamen | |
Weg mit der chronisch quertreibenden Bundestagsabgeordneten und ihren | |
Anhänger:innen mehr gibt. Einen letzten Versuch, zu retten, was längst | |
nicht mehr zu retten ist, haben die Parteivorsitzenden Janine Wissler und | |
Martin Schirdewan am 25. Mai gestartet. | |
Da trafen sie sich zu einem vertraulichen Gespräch mit Wagenknecht. Bei dem | |
Treffen, an dem auch die beiden Bundestagsfraktionsvorsitzenden Dietmar | |
Bartsch und Amira Mohamed Ali teilnahmen, stellten sie Wagenknecht ein | |
Ultimatum, zeitnah und öffentlich von Plänen zur Gründung eines | |
konkurrierenden Parteiprojektes Abstand zu nehmen und entsprechende | |
Vorbereitungen umgehend einzustellen. | |
Nachdem Wagenknecht dazu nicht bereit war, [1][beschloss der Parteivorstand | |
am 10. Juni einstimmig]: „Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne | |
Sahra Wagenknecht.“ Und nicht nur das. Auch alle, die sich am Projekt einer | |
konkurrierenden Partei beteiligten, sollten ihre Mandate zurückgeben. | |
## Heftig empört | |
Umgehend meldeten sich sechs Bundestagsabgeordnete zu Wort, die dem | |
Wagenknecht-Lager zugerechnet werden, unter anderem Sevim Dagdelen und | |
Klaus Ernst. Niemand bestritt die Vorwürfe des Vorstands in Bezug auf die | |
Pläne zur Gründung eines Konkurrenzprojekts und dass Ressourcen aus für die | |
Linkspartei gewonnenen Mandaten für den Aufbau genutzt werden. Und niemand | |
distanzierte sich von den Spaltungsaktivitäten. | |
Aber allesamt empörten sie sich heftig darüber, dass der Linken-Vorstand | |
solch eindeutig parteischädigendes Treiben nicht mehr länger hinnehmen | |
will. Mit dem Parteivorstandsbeschluss werde „der Kurs der Parteiführung in | |
Richtung einer bedeutungslosen Sekte noch verschärft“, [2][twitterte | |
Dağdelen]. | |
Die Co-Fraktionsvorsitzende Mohamed Ali schrieb, sie halte den Beschluss | |
„für einen großen Fehler und einer Partei unwürdig, die sich Solidarität | |
und Pluralität auf die Fahnen schreibt“. Damit stellte sie sich gegen | |
Dietmar Bartsch, der am Dienstag überraschend der Parteiführung | |
beipflichtete. „Ich will in großer Klarheit deutlich machen, dass ich es | |
auch als völlig inakzeptabel ansehe, wenn man den Versuch unternimmt, eine | |
neue Partei zu gründen, oder Gespräche führt, eine neue Partei ins Leben zu | |
rufen“, sagte er. Bisher war die Fraktionsspitze stets bemüht, Einigkeit zu | |
vermitteln. Jetzt zeigt der Konflikt, wie blank die Nerven liegen. | |
## Wagenknechts Partei | |
Selbst Gregor Gysi, der sich lange um Sahra Wagenknecht als | |
Fraktionsmitglied bemühte, geht mittlerweile auf Distanz zu ihr: „Wenn sie | |
eine neue Partei gründet, dann muss sie ihr Mandat niederlegen“, erklärte | |
der frühere Partei- und Fraktionschef am Freitag. „Alles andere wäre | |
unmoralischer Mandatsklau“. | |
Die Frage, ob Wagenknecht ein Konkurrenzprojekt zur Linken gründet, ist | |
längst keine politische mehr, sondern nur noch eine technische. Und daran | |
lässt die 53-Jährige inzwischen auch selbst keinen Zweifel. Eine Partei, | |
„die dann auch erfolgreich sein soll“, ließe sich „nicht mal eben so“ | |
gründen, bekundete sie am Dienstag [3][in einem Interview mit dem WDR]. | |
Viele würden jedoch derzeit versuchen, die Voraussetzungen dafür zu | |
schaffen. | |
„Wenn die Voraussetzungen einer neuen Partei nicht geschaffen werden, dann | |
werde ich mich nach Ende dieser Legislatur ins Privatleben zurückziehen“, | |
sagte sie. „Aber ich müsste damit den Anspruch aufgeben, politisch noch | |
etwas zu verändern, und ich würde mir schon wünschen, ich könnte noch etwas | |
verändern.“ | |
Bis spätestens Ende des Jahres will sie sich entscheiden, ob sie den Sprung | |
wagen will. Ein denkbares Szenario ist der Bruch im Oktober nach der | |
Landtagswahl in Hessen, bei der die Linkspartei wohl ihre letzte | |
parlamentarische Vertretung in einem westdeutschen Flächenland verlieren | |
wird. | |
## Abspaltungszentrum in Sachsen | |
Möglich ist auch eine Abspaltung im zeitlichen Umfeld des für Mitte | |
November geplanten Bundesparteitags. Um ein konkurrierendes Wahlbündnis für | |
die Europawahl im Juni 2024 zu schmieden, wäre allerdings auch eine | |
Trennung bis Anfang nächsten Jahres ausreichend. | |
Für den Bundestagsfraktionschef Bartsch hat die Bewahrung des | |
Fraktionsstatus, der schon beim Abgang von drei Abgeordneten verlustig | |
gehen würde, oberste Priorität. Gleichzeitig ist er alarmiert, denn selbst | |
aus seinem eigenen Landesverband in Mecklenburg-Vorpommern gibt es | |
eindeutige Signale, dass es so nicht weitergehen kann. Denn die | |
Abspaltungstendenzen sind unübersehbar. Der Spiegel schreibt sogar, es | |
gebe „Screenshots von Mails und SMS aus mehreren ostdeutschen | |
Landesverbänden“, die belegen würden, dass Kommunalpolitiker:innen | |
direkt von Wagenknechts engerem Kreis angesprochen wurden, ob sie am | |
Konkurrenzprojekt teilnehmen wollten. | |
Ein Zentrum der Spaltungsaktivitäten ist Sachsen, in den 1990ern und den | |
Nullerjahren eine Hochburg der damaligen PDS. Im größten ostdeutschen | |
Landesverband versucht die Ex-Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann, | |
offensiv Mitglieder aus der Linken für das geplante Konkurrenzprojekt zu | |
gewinnen. | |
Als die Landesvorsitzenden Susanne Schaper und Stefan Hartmann Wind davon | |
bekamen, schrieben sie Zimmermann einen Brief, baten sie um Stellungnahme | |
und warnten: „Wenn Du Dich weiterhin an der Neugründung einer Partei | |
beteiligen willst, legen wir Dir nahe, unsere Partei zu verlassen.“ | |
Direkt antwortete Zimmermann den Absender:innen nicht. Die Reaktion der | |
62-jährigen Gewerkschafterin konnten sie stattdessen am Mittwoch [4][in der | |
Chemnitzer Freien Presse] lesen. In dem Interview bestritt Zimmermann die | |
Abwerbeversuche keineswegs, vielmehr freute sie sich über den Zuspruch: „Da | |
verkennt die Partei die Lage, wie viele mitgehen werden“, sagte sie. | |
Ansonsten könne sie keine Details nennen, sondern nur sagen, „dass wir vom | |
Wagenknecht-Flügel uns in einem konstruktiven Klärungsprozess befinden“. | |
Alles hänge von Wagenknecht ab. „Ohne sie würde eine Neugründung kaum Sinn | |
machen“, so Zimmermann. „Wir müssen schnell handeln können, sobald die | |
Entscheidung steht.“ | |
Eine solche Wagenknecht-Partei, die sich gesellschafts- und | |
migrationspolitisch rechts und sozialpolitisch links verortet, würde | |
zuvorderst auf Stimmen aus dem Nichtwähler:innenspektrum und auch | |
derzeitiger AfD-Wähler:innen setzen, wäre aber für die schwer kriselnde | |
Linke gleichwohl existenzbedrohend. | |
## Landesvorstand beriet über Gegenstrategie | |
Öffentlich gibt sich der sächsische Landeschef Hartmann dennoch gelassen: | |
„Es hat auch schon in anderen Parteien und gerade hier in Sachsen | |
Abspaltungen gegeben, die sich am Ende als Rohrkrepierer erwiesen haben“, | |
sagte er der taz. Gemeint ist das gescheiterte AfD-Konkurrenzprojekt der | |
einstigen AfD-Vorsitzenden Frauke Petry. „Viele unserer Mitglieder ärgert | |
es sehr, dass es immer nur um eine Person geht“, sagte Hartmann. „Die | |
meisten interessieren sich für unsere Inhalte – und genau die wollen wir in | |
den Vordergrund stellen.“ | |
Trotzdem sind auch die Genoss:innen in Sachsen äußerst besorgt. Anfang | |
Juni traf sich der Landesvorstand und beriet über mögliche Gegenstrategien. | |
„Nunmehr erreichen uns vermehrt Informationen, dass diese Neugründung in | |
der zweiten Jahreshälfte hier in Sachsen stattfinden soll“, heißt es in | |
einem ohne Gegenstimmen verabschiedeten Beschluss des Gremiums. Für dieses | |
„Spaltungsprojekt“ würden mehr oder weniger im Geheimen „verdiente und | |
qualifizierte Genossinnen und Genossen angesprochen“. | |
Dieses Problem wolle der Landesvorstand nun offensiv und transparent | |
angehen. So sollen die rund 6.400 Mitglieder angeschrieben werden, und zwar | |
im Namen aller Landesvorsitzenden seit 1990. Auch die Abgeordneten in | |
Kreistagen, Stadträten und im Landtag sollen kontaktiert werden. Außerdem | |
soll geprüft werden, „welche administrativen Aufgaben und rechtlichen | |
Fragestellungen im Zuge einer möglichen Parteineugründung auf den | |
Landesverband zukommen“. | |
In Sachsen-Anhalt ist die Partei ebenfalls alarmiert. „Wir sind seit | |
Monaten in Gesprächen mit den Kreisverbänden und Ortsverbänden über eine | |
mögliche Spaltung und nehmen große Sorge wie auch viel Unverständnis über | |
Sahras Vorgehen wahr“, sagte die Landesvorsitzende Janina Böttger der taz. | |
Auch im Westen ist die Lage angespannt. „Natürlich gibt es auch im größten | |
Landesverband Genoss:innen, die mehr oder weniger aktiv für eine Abspaltung | |
von der Linken werben“, sagte die NRW-Landesvorsitzende Kathrin Vogler der | |
taz. Selbstverständlich könne es nach dem Beschluss des Parteivorstands | |
nicht einfach so weitergehen wie bisher. „Uns geht es darum, die Partei aus | |
ihrer tiefsten Krise wieder herauszuführen und sie als die linke Opposition | |
gegen Sozialabbau, Wohnungsnot und unsicheres Leben sichtbar und | |
erfolgreich zu machen“, sagte Vogler. | |
Die Landesvorstände der Linken haben vereinbart, sich besser zu vernetzen. | |
Die Partei wappnet sich. Dass das Konkurrenzprojekt von Wagenknecht noch zu | |
verhindern ist, glaubt kaum jemand. | |
17 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Linkspartei-bricht-mit-Wagenknecht/!5939549 | |
[2] https://twitter.com/SevimDagdelen/status/1667956379913539584 | |
[3] https://www1.wdr.de/fernsehen/aktuelle-stunde/alle-videos/video-fuenf-minut… | |
[4] https://www.freiepresse.de/nachrichten/sachsen/sabine-zimmermann-ueber-spek… | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
Anna Lehmann | |
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