# taz.de -- Menschenrechte und Waldschutz: Umstrittenes Gesetz in Brasilien | |
> Das Parlament hat ein Gesetz beschlossen, das die Rechte der indigenen | |
> Bevölkerung einschränkt. Ob Präsident Lula ein Veto einlegt, ist | |
> fraglich. | |
Bild: Lula da Silva, neben Umweltministerin Marina Silva (links) und Indigenen-… | |
BERLIN taz | Am 30. Mai steht Célia Xakriabá am Rednerpult des | |
brasilianischen Abgeordnetenhauses. Die Politikerin trägt einen bunten | |
Federschmuck auf dem Kopf, um sie herum stehen Kolleginnen mit ernster | |
Miene, einige halten Schilder hoch. Irgendwann reibt sich die indigene | |
Abgeordnete der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) rote Farbe aus | |
einer Holzschale in die Hände, reißt sie in die Luft und ruft: „Sie werden | |
indigenes Blut an ihren Händen haben.“ [1][Ein Video der emotionalen Rede | |
ging in den sozialen Medien viral.] | |
An diesem Tag stimmte das Abgeordnetenhaus über ein umstrittenes Gesetz ab, | |
durch das die Ausweisung von indigenen Gebieten begrenzt werden soll. Laut | |
dem Gesetzesprojekt 490/2007 soll zukünftig nur noch Land als indigenes | |
Schutzgebiet ausgewiesen werden, das vor dem 5. Oktober 1988 – dem Tag der | |
Verfassungsausrufung – von Indigenen bewohnt wurde. In der Praxis könnten | |
dadurch etliche Gemeinden von dem von ihnen bewohnten Land vertrieben | |
werden, wenn nicht bewiesen ist, dass sie vor 1988 dort ansässig waren. | |
Indigene, die bereits zuvor von ihren Herkunftsgebieten vertrieben wurden, | |
dürften nicht auf ihr Land zurückkehren – wie es eigentlich die Verfassung | |
vorgesehen hatte. „Das Gesetz zerstört alle Möglichkeiten, unsere | |
Territorien auszuweiten, und erlaubt Nicht-Indigenen, kommerzielle Projekte | |
in unseren Gebieten durchzuführen“, sagt Marcia Wayna Kambeba der taz. Sie | |
ist indigene Aktivistin des Omágua-Volkes und Schriftstellerin. Nicht nur | |
die Territorien der indigenen Völker würden durch das Gesetz bedroht, | |
sondern auch die Natur. „Es bedroht den Kampf für den Klimaschutz und die | |
Biodiversität.“ | |
Laut Aktivist*innen gebe es eine weitere Gefahr: Durch das „Gesetz des | |
Völkermordes“ könnten Eindringlinge, die zuvor aus indigenen Gebieten | |
vertrieben worden waren, Anspruch auf Entschädigungen anmelden. Außerdem | |
könnte es auch die Kommerzialisierung und Privatisierung von indigenem Land | |
beschleunigen. Das ist eines der zentralen Anliegen von | |
Großgrundbesitzer*innen und dem Agrarsektor nahestehenden | |
Politiker*innen. Dies habe direkten Nutzen für das ganze Land, | |
argumentieren sie. | |
## Der Senat muss das Gesetz noch bestätigen | |
283 Abgeordnete stimmten am 30. Mai für das Gesetz, nur 155 dagegen. Das | |
zeigt die Kräfteverhältnisse im Land. Trotz progressiver Regierung sind | |
konservative und unternehmerfreundliche Kräfte stark in der Politik | |
vertreten. 300 der 513 Abgeordneten werden einer überfraktionellen | |
Interessenvereinigung des Agrobusiness zuordnet. Der Gesetzestext muss zwar | |
noch vom Senat bestätigt werden, doch auch dort haben Senator*innen die | |
Mehrheit, die dem Agrarsektor nahestehen. | |
Hoffnung setzen indigene Aktivist*innen auf den Obersten Gerichtshof. | |
Dort wird derzeit der Fall eines indigenen Territoriums im Bundesstaat | |
Santa Catarina geprüft. Das Urteil könnte Auswirkungen für das ganze Land | |
haben. Die Indigenenbehörde Funai bekräftigt, dass das derzeit diskutierte | |
Gesetz gegen die Verfassung verstößt, weil es Artikel 231 zum Schutz der | |
indigenen Völker missachtet. Letztlich könnte das Gesetz tatsächlich noch | |
vom Obersten Gerichtshof gekippt werden. | |
Für die Regierung des sozialdemokratischen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ | |
da Silva ist die Abstimmung des Abgeordnetenhauses eine Niederlage. | |
Hochrangige Regierungsmitglieder, wie die Ministerin für indigene Völker, | |
Sônia Guajajara, kritisierten die Gesetzesinitiative scharf. „Das Projekt | |
stellt einen gesetzmäßigen Völkermord dar, weil es isolierte Völker direkt | |
betrifft. Es erlaubt Dritten den Zugang zu Gebieten, in denen Menschen | |
leben, die noch keinen Kontakt zur Gesellschaft hatten“, sagte Guajajara. | |
Die Partei Lulas, die Arbeiterpartei PT, ließ ihren Abgeordneten zwar | |
Freiheit in ihrer Abstimmung, steht dem Gesetz aber kritisch gegenüber. | |
Sollte der Senat dem Gesetzesprojekt zustimmen, wird es Präsident Lula | |
vorgelegt, der noch sein Veto einlegen kann. | |
## Lula sucht immer wieder die Nähe zum Agrobusiness | |
Der Ex-Gewerkschafter hatte im Wahlkampf eine 180-Grad-Wende in der | |
Umweltpolitik versprochen und auch der indigenen Bevölkerung Unterstützung | |
zugesagt. Erst im April hatte die Regierung sechs neue indigene Gebiete | |
ausweisen lassen. Es waren die ersten sogenannten Demarkationen seit 2018. | |
In demarkierten Gebieten können die Indigenen in Autonomie leben, | |
kommerzielle Aktivitäten wie Bergbau sind dort ausdrücklich verboten. | |
Was Aktivist*innen Sorgen bereitet: Lula sucht auch immer wieder die | |
Nähe zum einflussreichen Agrobusiness. Etliche Repräsentant*innen der | |
Branche [2][reisten im April mit Lula und einer Regierungsdelegation nach | |
China]. Die indigene Aktivistin Marcia Wayna Kambeba würde es „nicht | |
überraschen“, wenn Lula kein Veto einlegt. Allerdings hofft sie, dass er | |
aus seinen ersten beiden Amtszeiten gelernt hat. „Sie müssen verstehen, | |
dass dieses Gesetz für das Weltklima und letztlich das gesamte Leben auf | |
unserem Planeten schädlich ist.“ | |
2 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/MidiaNINJA/status/1663692647981015040 | |
[2] /Brasiliens-Praesident-in-China/!5928158 | |
## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
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