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# taz.de -- Discounter-Mode von Lidl: Was die Plastiktüte erzählt
> Wer ohne Turnbeutel in die Schule kam, durfte sich nicht viele Hoffnungen
> machen. Heute ist Discounter-Ästhetik schick und wird versteigert. Warum?
Bild: Immer schnell weg, und jetzt auch noch sauteuer – die Sneaker von Lidl
Auf meiner Grundschule gab es Kinder, die ihre Sachen für den
Sportunterricht in Discounter-Plastiktüten mitbrachten. Schulranzen waren
teuer, die passenden Turnbeutel auch kein Schnäppchen. Weil sie wenig Geld
hatten, packten die Eltern dieser Kinder, die nach den Sommerferien keine
spannenden Reisegeschichten zu erzählen hatten, die Turnschuhe in
orangeblaue und blaugelbe Plastiktüten.
Die Eltern dachten sich nicht viel dabei. Proletarischer Pragmatismus. Was
ihre Kinder fühlten, konnte ich ahnen, [1][weil mich mit ihnen viel
verband.] Über so was sprachen wir aber nicht. Weil die Kinder mit den
Plastiktüten, die Kinder mit den Turnbeuteln und die Lehrer genau wussten,
wofür die Plastiktüten standen: ein Alltagsgegenstand, der wie andere
Alltäglichkeiten nicht der Rede wert ist, an und mit dem sich aber
unterscheidet, wer zuversichtlich in die Zukunft blicken darf und wer sich
nicht allzu viele Hoffnungen machen sollte.
Heute ist Discounter-Ästhetik begehrt. Schauspieler wie Lars Eidinger
posieren mit Designerimitationen der Aldi-Plastiktüte [2][vor
Obdachlosenschlaflagern]. Lidl verkauft Sneakers, Trainingsanzüge und
Shirts, auf denen das Discounter-Logo prangt. Die Trashmode erfreut sich so
großer Beliebtheit, dass Turnschuhe, die der Discounter 2020 anbot, schnell
ausverkauft waren. Online wurden die 20-Euro-Sneaker dann für [3][mehrere
Hundert Euro weiterverkauft]. Anfang dieser Woche hat Lidl eine neue
Kollektion herausgebracht. Ein Trainingsanzug, der auf der Lidl-Website
kurz für 20 Euro zu erwerben und dann vergriffen war, steht jetzt [4][für
120 Euro bei Ebay].
Der Trend bewegte Stil-Redakteure dazu, Mode- und Marketingexperten zu
befragen. Den Reiz des Unkonventionellen, die Demokratisierung der Mode,
das Anti-Status-Statement, die künstliche Verknappung oder den Einfluss von
Luxuslabels wie Balenciaga, die auch mit Alltagsreferenzen arbeiteten,
sahen diese hinter dem Phänomen.
## Armut und Ironie
Ich denke, dass mehr dahintersteckt, wenn sich jemand die
Plastiktüten-Ästhetik freiwillig und ohne Not zu eigen macht. Modetrends
drücken immer auch menschliche Bedürfnisse aus, einen gesellschaftlichen
Zeitgeist. Menschen geben sich deshalb nicht allein aus Ironie den Anstrich
von Armut. Sie wollen aus der erdrückenden Langeweile fliehen, die ein
Leben im Kapitalismus auch und besonders für jene bedeutet, die nie für
etwas kämpfen, um etwas bangen mussten. Weil alles, was sie brauchten,
schon immer da war. Das Leben der anderen, die stets kämpfen, aber nie zu
ihnen aufschließen können, romantisieren sie deshalb.
Der 18-Jährige Clay in Bret Easton Ellis’ Roman „Unter Null“ (1985)
verzweifelt so sehr an dieser Spannungslosigkeit, dass er sich ständig
zukokst. Andere tauchen mit Rap oder Gangsterserien in fremde Lebenswelten
ein, was gesünder ist. Aber sich mit Discounter-Plastiktüten einzukleiden?
Das ist einfach nur peinlich.
8 Jun 2023
## LINKS
[1] /Sozialer-Aufstieg/!5815999
[2] /Lars-Eidinger-und-Aldi/!5656127
[3] https://www.spiegel.de/stil/lidl-kollektion-hype-um-discounter-mode-a-b1041…
[4] https://www.ebay.de/itm/256101752016?hash=item3ba0da9cd0%3Ag%3AjoQAAOSwbPtk…
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
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