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# taz.de -- 30 Jahre Brandanschlag Solingen: Schmerz oder Ritual
> Die Inszenierung „Solingen 1993“ führt auf eine Zeitreise – und gibt e…
> Antwort auf die Frage nach gerechtem Gedenken.
Bild: Wo das Haus der Familie Genç stand, ragen heute fünf Kastanienbäume in…
Solingen Woran denken Sie, wenn Sie an die 1990er Jahre denken? Vielleicht
daran, wie Deutschland 1990 in Italien mit Franz Beckenbauer
Fußballweltmeister der Männer wurde; oder daran, wie Guildo Horn für
Deutschland beim ESC sang; oder an die Menschen, die sich nach dem
Mauerfall in den Armen lagen, mit dem sie diese 90er eingeläutet haben?
Vielleicht denken Sie auch an Ihren Tamagotchi oder Ihren Discman. Gerade
von der komplizierten, unübersichtlichen, unbehaglichen Gegenwart aus
betrachtet wird Ihnen bei diesen Erinnerungen dann vielleicht wohlig warm
ums Herz.
Jedenfalls brauchen die überdrehten Hostessen mit ihren knallblauen
Kleidern und Haaren, Bravo-Heften und 90er-Hits („What is love?“) nicht
lange, um in mir diese schönen Gefühle der Nostalgie auszulösen.
Ich sitze im Bus, es ist Mai 2023, und wir sind gerade vom Düsseldorfer
Hauptbahnhof losgefahren. Als wir unter schriller 90er-Dauerbeschallung von
der A46 in die Ausfahrt 30 Richtung Solingen einbiegen, bricht die Musik
abrupt ab. Während der Bus auf einer Landstraße durch eine idyllisch grüne
Landschaft fährt, lösen in der Chronologie der Hostessen Politiker und
Nazis David Hasselhoff und Michael Schumacher als Protagonisten der 1990er
ab:
„‚Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt
hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben‘,
sagt CDU-Innenminister Rudolf Seiters.
Im [1][sogenannten ‚Asylrechtskompromiss‘ vom 26. Mai 1993] schränkt eine
große Koalition aus CDU, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl so massiv ein,
dass es faktisch abgeschafft wird.
In Eberswalde wird der angolanische Vertragsarbeiter Amadeu Antonio Kiowa
totgeprügelt.
August 1992 – Mehrtägiger Pogrom gegen Ausländer*innen in
Rostock-Lichtenhagen. Die Polizei schaut entweder zu oder weg.
23. November 1992 – Im norddeutschen Mölln werden drei türkische Frauen bei
einem Mord- und Brandanschlag auf ihr Haus von Rechtsradikalen getötet.“
Dann hält der Bus in Solingen. [2][„Solingen 1993 – Eine theatrale Busreise
in die Vergangenheit“], heißt diese Reise des Düsseldorfer
Schauspielhauses, mit dem Regisseur Bassam Ghazi und ein junges Ensemble
zum 30. Jahrestag eines rassistischen Anschlags gedenken.
## Das Kind mit den Brandwunden
In der Nacht auf den 29. Mai 1993 steckten vier Neonazis das Haus der
türkeistämmigen Familie Genç in Brand und töteten Gürsün İnce (27), Hati…
Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4) –
Töchter, Enkelinnen und eine Nichte von Mevlüde und Durmuş Genç, die Anfang
der 1970er Jahre nach Deutschland eingewandert waren. 14 weitere
Familienmitglieder wurden teils lebensgefährlich verletzt.
Nach der Busfahrt führt die Reise in vier Routen zu Orten in Solingen, die
für die Erinnerung bedeutend sind. Jede Route nimmt eine bestimmte
Perspektive ein: „Tatnacht“, „Hintermänner und Hintergründe“, „Stim…
Stadt“, „Familienstimmen“. In einer Telegram-Chatgruppe müssen die
Teilnehmenden Passwörter eingeben, die sie auf dem Weg einsammeln, um dort
zur nächsten Station geleitet zu werden.
Dort treffen sie auf Schauspieler:innen, die als überlebende
Familienmitglieder, Freund:innen und Zeitzeug:innen zu den
Teilnehmenden sprechen. Das Gesprochene entstand vor allem aus Interviews
der Macher:innen mit Mitgliedern der Familie Genç, mit Zeitzeug:innen,
dem Psychologen der Familie, aber auch mit Journalisten.
Die Reise führt zum Mercimek-Platz, der nach dem Ort in der türkischen
Schwarzmeerregion benannt ist, aus dem die Familie Genç stammt, zu einem
Steinmetz für muslimische Grabsteine und auch in die Untere Wernerstraße
81, wo einst das Haus der Familie stand und wo heute in einer Baulücke fünf
Kastanien in den Himmel ragen.
Auf einem Kinderspielplatz spricht eine Schauspielerin in der Rolle der
heute 33-jährigen Güldane zu uns. Sie hat den Anschlag überlebt und hält
uns das Foto eines Kindes mit schweren Brandwunden im Gesicht entgegen, dem
die Zunge aus dem Mund hängt:
„Hier bin ich im Krankenhaus. Mein erstes Kindheitsbild. Es gibt keine
anderen Bilder bei uns. Alles ist verbrannt. […] Meine Mutter hat mich,
damit ich überlebe, aus dem Fenster geworfen. Aber meine Mutter hat es
nicht geschafft.“
Auf einem Schild, auf dem die Spielplatzregeln nachzulesen sind, kleben
zwei Sticker mit Nazi-Parolen. Ich überklebe sie mit Stickern, die uns in
einer vorherigen Station ausgeteilt wurden und auf denen die Namen der
Opfer stehen. Ist das Teil der Inszenierung? Die Dramaturgin Birgit Lengers
verneint. Das Stück wird an diesem Tag nicht zum ersten Mal aufgeführt, die
Route scheint sich herumgesprochen zu haben.
## „Was machen Sie da?“
Ein Sechs- oder Siebenjähriger auf einem Fahrrad hält bei meiner Gruppe von
15 Personen an und fragt: „Was machen Sie da?“. Die Antwort hört er sich
interessiert an. Dann folgt er der Gruppe eine Weile. Er ist an diesem Tag
der Einzige, der sich spontan anschließt. Viele Solinger:innen laufen
und radeln vorbei, manche motzen sogar, weil sie nicht sofort durchkommen.
Das ist unangenehm, aber weniger unangenehm als die Nazi-Sticker oder ein
Mann, der unweit des Tatorts mit den Händen in den Hosentaschen in seinem
Garten steht und grimmig die Gruppe mustert, die an ihm vorbeizieht.
„Ich ging ins Bett, aber irgendwie konnte ich nicht einschlafen. Da hab ich
gedacht, dann geh ich eben Wäsche waschen. Die Gardinen waren schmutzig.
[…]
Auf einmal hörte ich draußen Schritte. Ich hatte den Eindruck, es müssten
mehrere Leute sein. Mich überkam eine unbestimmte Angst. Ich holte gerade
eine Gardine aus dem Wasser, als es einen Knall gab. Ich schrak zusammen.
Die Gardine fiel mir aus der Hand.
Ich guckte durch das Schlüsselloch unserer Wohnungstür und sah lauter
Flammen. ‚Es brennt!‘ Ich stand völlig unter Schock. In der Aufregung hab
ich mir einen Eimer aus dem Badezimmer gegriffen und angefangen, Wasser
gegen die Eingangstür zu schütten. Ich sah, dass das nichts brachte – die
Flammen kamen schon von allen Seiten heran. Da habe ich mich aus dem
Fenster gestürzt. […]
An einem anderen Fenster stand Gürsün mit ihrem Kind im Arm und schrie:
‚Holt uns hier raus!‘. Aber dann hielt sie die Flammen hinter sich nicht
mehr aus, sie warf das Kind runter, und dann fiel sie. Ich lief zu ihr und
drehte ihr Gesicht zu mir. Es war ganz blutverschmiert, sie war tot! […]
Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Krankenhaus. Da wusste ich noch
nicht, dass ich meine beiden Kinder verloren hatte. Als die Türken, die
mich besuchen kamen, mir Beileid wünschten, erst da begriff ich.“
Hatice Genç ist die Mutter der getöteten Mädchen Saime und Hülya. Zwei
Schauspielerinnen erzählen diese Geschichte gleichzeitig auf Türkisch und
Deutsch. Je mehr sie beim Erzählen in Rage geraten, desto mehr vermischen
sich die beiden Versionen, bis zur Unverständlichkeit. Dann tritt jene, die
auf Türkisch gesprochen hat, einen Schritt vor:
„Hatice Genç war damals so alt wie ich.“
Welches Gedenken wird den Opfern und dieser schrecklichen Tat gerecht?
[3][Vor fünf Jahren, zum 25. Jahrestag] des Anschlags, habe ich mir diese
Frage schon einmal vor Ort gestellt. Ich habe dort beobachtet, wie
verschiedene Gruppen um die Antwort darauf ringen. Natürlich. Die Stadt,
die weltweit lieber ausschließlich für ihre Qualitätsmesser bekannt sein
würde, hat ein Interesse. Das Land NRW und die Bundesrepublik haben ein
Interesse. Genauso türkische Politiker:innen, die sich auf den Anschlag
beziehen. Und es gibt unterschiedliche, widerstreitende Interessen in der
türkeistämmigen Community. Aber sollte es bei diesem Gedenken um diese
Interessen gehen? Es gibt doch Familienmitglieder, die überlebt haben und
die mit diesem Überleben ringen.
## Gedenken muss wehtun
Zurück in meinem Kiez in Berlin, in dem es mehr türkische und arabische
Friseure gibt als andere Läden, höre ich im Radio, dass sich [4][Hendrik
Wüst (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, zu Solingen geäußert
hat.] Die rassistische Tat in Solingen sei kein Einzelfall gewesen, der 29.
Mai 1993 einer der dunkelsten Tage in der Geschichte seines Bundeslandes.
Erinnern dürfe nie enden. Erinnern bedeute, jeden Tag gegen Hass und Hetze
einzustehen.
Ich denke daran, dass dieser Ministerpräsident der gleichen Partei angehört
wie der damalige [5][Bundeskanzler Helmut Kohl, der nicht zur
Trauerveranstaltung für die Opfer gekommen ist], weil er keinen
„Beileidstourismus“ betreibe, wie sein Sprecher schon nach dem Anschlag in
Mölln erklärt hatte. Ich denke daran, dass die Hetze anderer CDU-Politiker
in NRW vor ein paar Tagen dazu geführt hat, dass eine türkeistämmige
Lehrerin, die öffentlich Rassismus in Sicherheitsbehörden problematisiert,
[6][ihren Lehrauftrag an einer Polizeihochschule verloren hat.]
Wird ein Gedenken den Opfern gerecht, von dem aus man geschmeidig zum
Tagesgeschäft zurückkehren kann? Oder muss sich gerechtes Gedenken auch
körperlich spürbar machen, weil einem ein kalter Schauer über den Rücken
läuft, der Hals sich zuzieht und ganz trocken wird, die Augen nass? So wie
bei einigen Teilnehmenden dieser Zeitreise, bei denen mit türkischen, aber
auch bei solchen mit deutschen Namen.
Vermutlich muss Gedenken wehtun, einem selbst und den anderen, wenn man
nicht bei der ritualisierten Wohlfühl-Sorte des Gedenkens landen möchte,
die in der Hitlist der deutschen Vergangenheitsbewältigung auf Platz 1
steht. Natürlich hat diese Sorte auch ihre Vorzüge, weil einen bei der
Erinnerung an die 90er behagliche Wärme überkommt, wenn man zu denen gehört
hat, die gespannt auf Antworten von Dr. Sommer warteten und nicht zu jenen,
die in diesem Land in Todesangst leben mussten.
Die Zeitreise endet in der Grünanlage Bärenloch, wo die vier Gruppen und
alle Schauspieler:innen noch einmal zusammen kommen. Zwei von ihnen
fragen:
„Sprechen wir hier wirklich von einer abgeschlossenen Vergangenheit, wenn
die Rede von mordenden Nazis und Baseballschlägern der 90er ist? Oder nicht
doch von einer Zeit, die brutal in das Heute hineinwirkt?“
28 May 2023
## LINKS
[1] /Rassistischer-Wahlkampf/!5913773
[2] https://www.dhaus.de/programm/a-z/solingen-1993/
[3] /Brandanschlag-in-Solingen/!5509534
[4] https://www.deutschlandfunk.de/nrw-ministerpraesident-wuest-sieht-in-rechts…
[5] /Rassistischer-Wahlkampf/!5913773
[6] /Rechter-Shitstorm-nach-Kritik-an-Polizei/!5933403
## AUTOREN
Volkan Ağar
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