| # taz.de -- Kinotipp der Woche: Ein paar Stockwerke drunter | |
| > Die Reihe „Optische Literatur“ zeigt Werke aus der ehemaligen | |
| > Filmabteilung des Literarischen Colloquiums Berlin, von Ehe-Epos bis | |
| > Scheidungsdoku. | |
| Bild: Manchmal ist die Scheidung genau das richtige: Szene aus der Doku „Von … | |
| Filme, die als „optische Literatur“ zu verstehen sein sollen, das klingt | |
| erst einmal eher abschreckend und nach dem, was dem deutschen Film seit | |
| jeher vorgeworfen wird. Nämlich Filme unbedingt mit Anspruch aufladen zu | |
| wollen, am besten noch mit „literarischer Qualität“ – was auch immer | |
| darunter genau zu verstehen ist. Jedenfalls danach, einen Kinofilm nicht | |
| einfach einen möglichst unterhaltsamen Kinofilm sein lassen zu wollen und | |
| ungefähr nach dem Gegenteil zu, sagen wir mal „Star Wars“. | |
| Aber man muss dann doch keine Angst vor der Filmreihe „Optische Literatur“ | |
| haben, die das [1][Zeughauskino] vom 23. Mai bis zum 30. Juni zeigt. | |
| Gewidmet wird sich hier der Filmabteilung, die das vor ziemlich genau 60 | |
| Jahren gegründete Literarische Colloquium Berlin noch bis in die Neunziger | |
| unterhielt. | |
| Der Begriff „Optische Literatur“ geht auf dessen Gründer Walter Höllerer | |
| zurück, der als Schriftsteller und Literaturwissenschaftler auch Interesse | |
| an anderen Künsten hatte, so auch an der Filmkunst. Und die Werke, die in | |
| der Filmabteilung des Colloquiums entstanden sind, sind am Ende auch nicht | |
| unbedingt schwerfälliger als das, was der Neue Deutsche Film sonst so | |
| hervorgebracht hat. | |
| Das einführende Zitat von Bertolt Brecht, das dem im Rahmen der Filmreihe | |
| gezeigten „Deutschland, bleiche Mutter“ (1980) von Helma Sanders-Brahms | |
| vorangestellt ist und dessen Titel auch einem Gedicht von Brecht entliehen | |
| wurde, ist dann schon länger als man das sonst so gewohnt ist. Aber bei | |
| einem Epos wie diesem, das in der ungeschnittenen Originalfassung von | |
| zweieinhalb Stunden Länge gezeigt wird und in dem die Geschichte einer Ehe | |
| über die Wirren des Zweiten Weltkriegs hinweg gezeigt wird, ist das | |
| vielleicht auch angemessen. | |
| Das Literarische Colloquium Berlin hat im Bereich der Bewegtbilder alle nur | |
| erdenklichen Formen vom Kurz- bis zum Experimentalfilm ausprobiert und | |
| produziert. Darunter auch den Dokumentarfilm „Von wegen ‚Schicksal‘“ (1… | |
| von Helga Reidemeister, der wirklich ganz erstaunlich ist. In diesem wird | |
| Irene portraitiert, Mutter von vier Kindern, die in einem Hochhaus im | |
| Märkischen Viertel lebt. Ihre beiden jüngsten Kinder leben noch bei ihr und | |
| ihr geschiedener Mann Richard ein paar Stockwerke drunter im selben Haus. | |
| Irene mit ihren 48 Jahren wirkt wirklich nicht wie eine spätberufene | |
| Kommunardin, die endlich ihr altes Spießerleben hinter sich lassen möchte. | |
| Doch eigentlich will sie genau das. Aus gesundheitlichen Gründen kann sie | |
| nicht mehr arbeiten, lebt von Sozialhilfe, sträubt sich aber dagegen, zur | |
| Hausfrau reduziert zu werden. Sie möchte ihre beiden Jüngsten gewaltfrei | |
| erziehen und deswegen dem Einfluss des Vaters entziehen, während ihre | |
| beiden älteren Töchter eher zu diesem halten und einfach nicht darüber | |
| hinweg kommen, dass sie Scheidungskinder sind. | |
| Irene spricht von ihrem Drang nach Freiheit, offen von Sex und davon, dass | |
| sie erkannt hat, dass die Institution Ehe wohl einfach nichts für sich ist. | |
| Gleichzeitig ist da bei ihr, die am liebsten ständig „Die Moldau“ hört, e… | |
| großes Bedürfnis nach Geborgenheit, genau wie bei ihren Kindern. Und in all | |
| diesem Durcheinander wütet nun Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister herum. | |
| Sie beobachtet nicht nur, sondern mischt sich ein, stellt unangenehme | |
| Fragen, konfrontiert Irene mit den wirklich drastischen Vorwürfen ihrer | |
| zweitältesten Tochter, bis dieser die Tränen kommen. Das ergibt einen | |
| unheimlich bewegenden Film über eine Frau, die ihr Schicksal endlich wieder | |
| in die eigene Hand nehmen möchte. | |
| 23 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihe/optische-literatur/ | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Hartmann | |
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