# taz.de -- Umgang mit Lebensmitteln: Verwenden oder verschwenden? | |
> Klar sollte man keine Lebensmittel wegwerfen. Aber so heilig, dass man | |
> nicht was anderes damit machen könnte, sind sie auch nicht. | |
Bild: Zu schade für die Tonne: abgelaufene Lebensmittel | |
Lebensmittel wegwerfen geht gar nicht – da sind sich alle einig. Aber wer | |
wirft dann die über [1][sechs Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich in den | |
deutschen Hausmüll]? Meine Eltern mit Sicherheit nicht. Mein Vater hat mir | |
eingebläut, dass Haltbarkeitsdaten bloß ein Marketingtrick sind und meine | |
Mutter nagt bis heute eisern den öllerichsten Knust auf, bevor sie das | |
frische Brot anschneidet. | |
Seit Willi ausgezogen ist, fehlt er mir in dieser und mancher anderen | |
Hinsicht. Wenn Willi an Wochenenden zu Hause ist, sucht er als Erstes | |
begeistert die Küche nach unseren angetrockneten Nudelresten ab. | |
Apropos Nudeln. Neulich erzählte mir eine Erzieherin, sie sei von einer | |
Mutter der Lebensmittelverschwendung bezichtigt worden, weil sie in der | |
Kita mit den Kindern Ketten aus Nudeln aufgefädelt hatte. „Essen ist kein | |
Spielzeug!“ Ich wette, über ein Amazon-Produkt mit dem Titel „Penne, | |
Kindergarten-Perlen-Mischung aus 100 Prozent Hartweizengrieß für 12,99 | |
Euro“ oder über Plastikperlen hätte sich niemand aufgeregt. | |
Ich habe kürzlich ein Bilderbuch gemacht, welches von einer Kartoffel | |
handelt und das ich – naheliegenderweise – mit Kartoffeldruck illustriert | |
habe. Ich bin mir dabei sehr öko-woke vorgekommen. Eine Technik mit | |
günstigem, natürlich nachwachsendem und 100 Prozent [2][kompostierbarem | |
Rohstoff]. Gerade bekam ich aber Post von den Veranstaltern eines | |
Workshops. Sie wünschen, dass ich mit den Kindern statt der Kartoffeln | |
lieber Kunststoffstempel verwende, von wegen Essensverschwendung. | |
Aber ist verwenden gleichbedeutend mit verschwenden? Sind Granatapfel und | |
Sheabutter, die vermeintlich in meiner Seife sind, auch verschwendete | |
Lebensmittel? Niemals vorher hat es jemanden interessiert, mit was für | |
Material ich mit den Kindern arbeite, ob giftige Lösungsmittel, | |
synthetischer Binder oder vielleicht auch Nahrungsmittel wie Maisstärke | |
drin sind. Aber eine einfache Kartoffel zum Stempeln ist: böse. | |
Essen die Leute, die in der Kita wegen einer Handvoll Linsen in einer | |
Klorollen-Rassel meckern, eigentlich die alten Schulbrote ihrer Kinder auf? | |
Oder wollen sie – eben, weil sie es nicht tun – ihr Gewissen beruhigen, | |
indem sie anderswo herummoralisieren? Was Kinder lernen sollten, ist doch | |
der respektvolle Umgang mit Lebensmitteln – und mit etwas „zu spielen“ | |
schließt Respekt nicht aus. Solange wir es am Ende aufgegessen haben, | |
durften wir früher zu Hause immer auf dem Teller Straßen ins Kartoffelmus | |
bauen. | |
Mein Mann wurde [3][im Zusammenhang mit Essen] strenger sozialisiert als | |
ich. Der Clan seines Vaters hatte nicht nur wie meine Eltern Erinnerungen | |
an den Nachkriegshunger, sondern auch an Flucht. Bei meiner ersten | |
Einladung auf Tante Lottis Geburtstag vor 25 Jahren, wurde ich von einem | |
älteren Cousin in der Küche zur Seite genommen und in eine | |
überlebenswichtige Grundregel eingewiesen. | |
Er zeigte auf eine Frikadelle, in der Erbsen zu sehen waren. Er schärfte | |
mir ein, immer darauf zu achten, ob etwas im Essen sei, was nicht | |
hineingehörte, so wie in diesem Falle die Erbsen. Die mussten | |
wahrscheinlich dringend weg. Und was dringend weg musste, galt als | |
ungenießbar für jeden, der keinen Ostpreußischen Magen-Darm-Trakt besaß. | |
Tante Lotti lebt leider nicht mehr – und sie ist nicht etwa an | |
Lebensmittelvergiftung gestorben. Ich vermisse sie sehr, sie war so | |
wunderbar pragmatisch. Niemals hätte sie so viel Gewese um die Sache | |
gemacht wie ich hier. Sie hätte die Stempel-Kartoffeln später abgewaschen | |
und mit allem anderen, was weg musste, [4][als Zusammengejagtes verkocht. | |
Ich tue das übrigens auch. Ich werfe sogar noch den harten Knust mit rein]. | |
Ich muss dann nur noch aufpassen, dass Willi das Ganze nicht verspeist, | |
denn das ist für die Hühner. | |
14 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Birte Müller | |
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