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# taz.de -- Alltag nach Willis Auszug: Doppelte Freude am Wochenende
> Seit unser Sohn Willi ausgezogen ist, haben sich die Chancen auf
> Entspannung verbessert. Mir wird klar, was wir die Jahre vorher alles
> geleistet haben.
Bild: Gehören zu Willis Lieblingsbeschäftigung: Murmeln
Wenn ich per [1][Onlinebanking] Geld überweisen will, muss ich die
Transaktion mit einer separaten App bestätigen. Danach bekomme ich
vermeldet: „Alles erledigt, sie können nun entspannen.“ Das regt mich jedes
Mal auf. Woher will denn die scheiß App wissen, ob ich alles erledigt habe?
Habe ich nämlich nicht. Außerdem war ich entspannt – wenigstens bis zu dem
Moment, in dem ich die beknackte Push-Nachricht gelesen habe. Ich kann mich
nämlich sehr gut entspannen, auch wenn ich nicht alles erledigt habe.
Mein Mann tickt da ganz anders. Ihn nervt es zwar genauso, dass ihm sein
Telefon unterstellt, unentspannt gewesen zu sein, aber grundsätzlich muss
er für seine Seelenruhe jede Aufgabe zu Ende bringen. Einerseits
bewundernswert, andererseits problematisch bei langfristigen Projekten wie
zum Beispiel Kindern. Wann immer er für sie zuständig war, hatte er wohl
erst in dem Moment, in dem beide schlafend im Bett lagen und er die ganze
Wohnung geputzt hatte, das Gefühl, sich entspannen zu können. Ein sehr
kleines Zeitfenster.
Da ich grundsätzlich viele Dinge gleichzeitig mache, plane und verdränge
(ganz ohne den Anspruch, etwas abzuschließen) und selten Zeit mit Aufräumen
verschwende, kann ich Zeit mit unseren Kindern bis heute mehr genießen als
mein Mann.
Nun ist unser Sohn Willi 18 Jahre alt geworden. Zu dem Anlass hätte uns
beiden die Nachricht „Alles erledigt, Sie können jetzt entspannen!“ ganz
gut gefallen. Stattdessen mussten wir reihenweise Papiere ausfüllen sowie
Arzt- und Gerichtstermine absolvieren, um weiterhin offiziell für unser
Kind zuständig zu sein. Theoretisch ist Willi erwachsen, praktisch kennt er
aber weder den Wert von Geld noch den Sinn des Zähneputzens.
## Ein schöner Ort
Den Unterschied hat bei ihm nicht die Volljährigkeit, sondern [2][sein
Auszug] gemacht. Als Willi 15 war, [3][erkrankte seine Schwester an
Post-Covid] und er musste ausziehen. Ich erwähne Olivias Krankheit, weil
ich deswegen ein schlechtes Gewissen habe. Ich weiß zwar, dass ich mich
nicht schämen muss, weil unser behindertes Kind nicht mehr bei uns wohnt,
trotzdem habe ich es lange getan.
Wenn ich gefragt wurde, ob Willi in eine Wohngruppe gezogen sei, habe ich
oft gelächelt und genickt. Dabei lebt er in einer Einrichtung, die
schlichtweg ein Kinderheim ist. Die Worte „Mein Kind lebt im Heim“ lösen
bei mir zwangsweise so schlimme Schuldgefühle aus, dass ich es nie
ausspreche. Dabei ist Willis neues Heim ein schöner Ort, mit liebevollen
Menschen, wo er am Nachmittag endlich mit anderen Jugendlichen herumhängen
und altersentsprechende Dinge tun kann – nämlich nichts.
Jedes zweite Wochenende kommt er zu uns nach Hause. Er ist gerne zu Hause
(noch lieber allerdings bei Oma oder Opa) und fährt ebenfalls gerne wieder
zurück.
Auch ich freue mich, wenn Willi nach Hause kommt und dann noch mal, wenn er
Sonntagabend wieder weg ist. Während mein Mann ihn zurückfährt, betreibe
ich Schadensbegrenzung, polke ein paar Hundert Murmeln unter den Sofas
hervor und bin beeindruckt davon, was wir durchgängig die Jahre vorher
[4][geleistet haben].
12 May 2025
## LINKS
[1] /Onlinebanking/!t5625597
[2] /Urlaub-in-meiner-und-Willis-Kindheit/!6023839
[3] /Long-Covid-bei-Kindern/!5891848
[4] /Zeitsparen-und-anderer-Stress/!5900672
## AUTOREN
Birte Müller
## TAGS
Schwer mehrfach normal
Hamburg
Leben mit Behinderung
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Care-Arbeit
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