# taz.de -- Zeitsparen und anderer Stress: Das Zeitgeiz-Paradox | |
> Was wir am dringendsten brauchen, ist Zeit. Aber möglichst effektives | |
> Zeitsparen ist auch keine Lösung. | |
Bild: Wenn die Kinder die Zeit bestimmen: Lichtinstallation im Londoner Hampton… | |
Das Jahr geht dem Ende zu. Das finde ich nicht schlimm. Meine einzige | |
Weihnachtsfeier-Einladung wurde abgesagt. Finde ich auch nicht schlimm – so | |
habe ich ein bisschen mehr Zeit. Vielleicht sollten wir uns alle zu | |
Weihnachten mit der Absage von Terminen beschenken. Zeit brauchen wir doch | |
am dringendsten. Meine Tochter hört jetzt aus Zeitspargründen die | |
Sprachnachrichten ihrer Freundinnen (die ohnehin beeindruckend schnell | |
sprechen) mit doppelter Geschwindigkeit. | |
Ich finde, der Vorteil einer SMS liegt – wie der Name schon sagt – in ihrer | |
Kürze. Die elendigen Sprachnachrichten versauen die Übersichtlichkeit in | |
jeder Whatsapp-Gruppe. Nur ihre Verfasser sparen Zeit, weil sie ihre | |
Korrespondenz ganz toll effizient nebenher erledigen. Ich wage aber die | |
Behauptung, dass [1][Sprachnachrichten-Geschwafel] nicht nur die Empfänger | |
mehr Zeit kostet, so oft wie darin die Worte „Shit, hier hätte ich abbiegen | |
müssen“ vorkommen. | |
Das Gesülze auch noch in doppelter Geschwindigkeit abzuhören übersteigt | |
meine Schmerzgrenze, das ist dann doch zu viel Zeitgeiz. Da höre ich | |
Sprachnachrichten lieber gar nicht erst ab. Ich habe übrigens auch mal | |
versucht welche aufzunehmen. Aber ich kann das nicht. Ich habe irgendwie zu | |
dicke Finger fürs Smartphone und rutsche ständig vom Knopf, der ja gar kein | |
Knopf ist, nicht mal eine Taste, weswegen mein Gelaber am Ende nicht mal | |
aufgezeichnet wurde. | |
Woher nehmen die Leute bloß die ganze [2][Zeit] für die vielen Whatsapps, | |
Posts, Tweets, Retweets, Snaps, Stories und Telegramme? Mir fehlt die. | |
Dabei haben wir alle die genau gleichen 24 Stunden täglich zur Verfügung. | |
Ganz gerecht. Nicht gerecht ist, dass einige in diesen 24 Stunden | |
Staubsaugen und Töpfe auswaschen und andere nicht. Aber das ist ein anderes | |
Thema. | |
## Willi und die vermurmelte Zeit | |
Einen bedeutenden Teil meiner Zeit habe ich in den letzten Jahren mit | |
unserem Sohn Willi an der Murmelbahn verbracht. Es war oft eine | |
Herausforderung, etwas scheinbar so Sinnloses zu tun, wie Glaskugeln eine | |
schräge Ebene hinabrollen zu lassen, während sich um mich herum Dinge | |
türmten, die ich hätte tun müssen oder tun wollen. Zeitsparend nebenbei | |
andere sinnlose Dinge zu tun wie im Zimmer staubwischen oder | |
Sprachnachrichten abhören, hat Willi nie erlaubt. Das hat oft genervt, aber | |
oft habe ich mich dabei auch sehr erleuchtet gefühlt – sogar glücklich. | |
Recht desillusionierend ist dann aber immer der Moment gewesen, wenn beide | |
Kinder morgens aus dem Haus oder abends im Bett waren. Dann ist | |
unübersehbar, dass ich keineswegs eine höhere Erkenntnisstufe erreicht | |
habe, denn ich versuche durch doppeltes Arbeitstempo die vermurmelte Zeit | |
wieder reinzuholen. | |
Ich gerate in einen Zustand so übersteigerter Pseudo-Effektivität, dass es | |
von außen betrachtet den Schwachsinns-Grad einer in doppelter | |
Geschwindigkeit abgespielten Sprachnachricht noch deutlich übertrifft. | |
Während ich maximal hektisch aufräume und putze, Termine plane und | |
Nachrichten höre, kochen nebenher die Nudeln über und ich verschütte meinen | |
Kaffee auf die frische Wäsche, die ich einräume. Ein völlig irrer Zustand, | |
den mein Mann – nicht ganz zufällig – als einen gigantischen, an ihn | |
gerichteten Vorwurf interpretiert. | |
Jetzt wo Willi ausgezogen ist, müsste ich zeitlich gesehen die gesamte | |
Hausarbeit in völliger Ruhe erledigen und nebenher noch [3][Podcasts] oder | |
Sprachnachrichten anhören können. Tue ich aber nicht. Den Großteil meiner | |
freigewordenen Zeit verbringe ich – wenn unsere Tochter mich nicht braucht | |
– mit anderen wundervoll sinnlosen Beschäftigungen und erledige die | |
Hausarbeit danach weiterhin völlig Zen-befreit. Gerade flechte ich Körbe. | |
Körbe, die kein Mensch benötigt. Dabei müsste ich unbedingt die | |
Steuererklärung machen. | |
Zum Glück ist Willi in den Weihnachtsferien zuhause, dann stellt sich die | |
Frage nach der Steuer nicht, dann kann ich einfach murmeln. | |
25 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Birte Müller | |
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