| # taz.de -- Aufmerksamkeit bekommen von Mitmenschen: „Arschloch“ klappt imm… | |
| > Unser Sohn Willi kommuniziert vor allem nonverbal. Zu den Wörtern, die er | |
| > sprechen kann, gehört „Arschloch“. Nun hat er einen Kontext dafür | |
| > gefunden. | |
| Bild: Ein Ort, an dem Willi sicher wäre: Anti-Nazi-Demo in Chemnitz anlässlic… | |
| Ohne Lautsprache zu kommunizieren, ist eine Herausforderung – nicht nur | |
| für unseren Sohn Willi, sondern auch für sein Umfeld. Ich bin froh, dass | |
| Willi es der Welt nicht übel nimmt, dass sie ihn so selten versteht. Als | |
| Eltern begreifen wir noch am ehesten, was sein enthusiastisches | |
| Sammelsurium von Lauten und Bewegungen bedeuten könnte. Aber oft haben | |
| selbst wir trotz mehrfacher Nachfrage keinen Plan, was Willi meint. | |
| Manchmal sage ich ihm das und manchmal stimme ihm einfach auch begeistert | |
| zu. | |
| Da Willi schon groß ist, will er sich in der Öffentlichkeit lieber mit | |
| anderen Menschen unterhalten als mit seiner Mudda. Die besten Gespräche hat | |
| er dabei oft mit Menschen, die kein Deutsch sprechen. Auch hat er Schwarze | |
| Menschen als besonders kommunikationsfreudig im nonverbalen Bereich für | |
| sich entdeckt. Da darf sogar berührt werden, was ja sonst Tabu ist. | |
| Wenn Willi es sich in den Kopf gesetzt hat, in der S-Bahn mit jemandem zu | |
| sprechen, der aber weiter unbewegt auf sein Handy starrt, kann er recht | |
| hartnäckig sein. Irgendwann beginnt er die Person anzutippen (obwohl er | |
| weiß, dass er das nicht soll) und wenn auch das nichts bringt, schiebt er | |
| sein breites Grinsen zwischen Gesicht und Mobiltelefon und erzwingt | |
| Augenkontakt. | |
| Gnadenlos redet er dann verzückt auf sein Opfer ein, zeigt Dinge und macht | |
| reichlich Gebärden. Wenn mich Willis Gegenüber zu flehentlich anblickt, | |
| übersetze ich etwas. Für die besonders Überforderten denke ich mir auch mal | |
| was Nettes aus. Willi selbst genügt es völlig, wenn sein Gesprächspartner | |
| lächelt und nickt. Ich finde, das ist nicht zu viel verlangt. | |
| Bleiben die Gesichter stumpf, versucht Willi es mit Tier- und | |
| Pupsgeräuschen oder klopft an die Scheibe, während ich versuche, ihn zu | |
| überreden, den Platz zu wechseln. Denn wenn Willi weiter ignoriert wird, | |
| rülpst er leider gerne laut – dafür gibt es auf alle Fälle | |
| [1][Aufmerksamkeit]. | |
| Willi hat auch eine elektronische Sprechhilfe (ein Tablet mit Symbolen, die | |
| gesprochen werden, wenn er sie antippt). Solange er es nicht einfordert, | |
| gebe ich ihm das Teil in der Bahn allerdings nicht. Er würde neben seinem | |
| Quatsch-Repertoire („Ich möchte BH. Ich möchte Pumps“) womöglich mit dem | |
| Wort „Arschloch“ auftrumpfen. Damit geht immer was. | |
| Ich bin sicher, dass Willi es nicht als Schimpfwort meint. Vielmehr | |
| fasziniert ihn der große Eindruck, den es allerorts macht. Ich wurde oft | |
| aufgefordert, dieses Wort aus seiner Sprechhilfe zu löschen. Aber ich finde | |
| nicht, dass ich das Recht habe, Willi ein Wort wegzunehmen, nur weil es uns | |
| nicht passt, dass er es benutzt. | |
| Neulich mussten wir feststellen, dass Willi das A-Wort auch sprechen kann. | |
| Auf einer Party wurde laut der [2][Ärzte]-Song „Schrei nach Liebe“ | |
| mitgesungen und Willi rief in die Pause am Ende des Refrains „Arschloch“ – | |
| mit Erfolg bei seinem Publikum. Seitdem hat er es oft wiederholt, doch ohne | |
| den Kontext ist es glücklicherweise nur schwer verständlich. Wir suchten | |
| trotzdem einen Anlass – außerhalb eines [3][Punkrock]-Songs – zu dem Willi | |
| das Wort passend anbringen kann. | |
| Diesen fanden wir tatsächlich in seinem Lieblingsfilm „Blues Brothers“. In | |
| den Szenen, in denen der Führer der Nazi-Partei auftaucht (Uniform, | |
| Hakenkreuzbinde, Hitlergruß) haben wir erklärt, dass das ein Arschloch sei. | |
| Nun ruft Willi begeistert vor und in jeder Szene, in der die Nazis | |
| auftauchen „Aslooooo“ und wir können das guten Gewissens bestätigen. | |
| Manchmal frage ich mich allerdings, was wohl passiert, wenn Willi wirklich | |
| mal einem dieser ganz Schlimmen begegnet, ihn entzückt „Aaaaslooooch“ | |
| rufend an sich drückt, um dann mit ihm zu seiner schönen Marschmusik zu | |
| tanzen. | |
| 27 Jun 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Aufmerksamkeit/!t5010685 | |
| [2] /Die-Aerzte-und-das-neue-Album-Hell/!5719875 | |
| [3] /Punkrock/!t5035141 | |
| ## AUTOREN | |
| Birte Müller | |
| ## TAGS | |
| Schwer mehrfach normal | |
| Kommunikation | |
| Autismus | |
| Leben mit Behinderung | |
| Menschen mit Behinderung | |
| Behinderung | |
| Hamburg | |
| Social-Auswahl | |
| Schwer mehrfach normal | |
| Schwer mehrfach normal | |
| Schwer mehrfach normal | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Alltag nach Willis Auszug: Doppelte Freude am Wochenende | |
| Seit unser Sohn Willi ausgezogen ist, haben sich die Chancen auf | |
| Entspannung verbessert. Mir wird klar, was wir die Jahre vorher alles | |
| geleistet haben. | |
| Wählen für Menschen mit Behinderung: Sollen Egemen und Achmad weg? | |
| Mein Sohn hat eine geistige Behinderung. Damit er wählen kann, müssten | |
| Formulierungen gefunden werden, die sich auf seine Lebenswirklichkeit | |
| beziehen. | |
| Urlaub in meiner und Willis Kindheit: Cool, uncool, richtig Kacke! | |
| Als Kind hätte ich gerne im Ausland Urlaub gemacht. Für meinen Sohn Willi | |
| wäre das schrecklich. Nun fahren wir ohne ihn, was nicht einfach ist. |