| # taz.de -- Willkür in Russland: Jeder lebt in seinem Versteck für sich | |
| > Schon das Lesen unabhängiger Nachrichten in der Metro kann eine | |
| > Haftstrafe nach sich ziehen. Furcht, Verbitterung und Unterwerfung | |
| > bestimmen den Alltag. | |
| Bild: Festnahme in Moskau: Unweit von hier wurde 2015 der Oppositionelle Boris … | |
| Moskau taz | Der Grenzer wendet den Pass hin und her. Er seufzt, schaut zu | |
| dem Mann vor sich, der schaut zurück, nimmt sein Käppi ab, seufzt | |
| ebenfalls. Minutenlang steht der Mann an der Passkontrolle am Moskauer | |
| Flughafen Domodedowo. Immer wieder blättert der Grenzer durch die Seiten | |
| des roten russischen Passes. Wortlos. | |
| Es ist mitten in der Nacht. Der Mann fängt an, Fragen zu stellen. Warum es | |
| so lange dauere, er wolle doch nur wieder zu Frau und Kind, von denen er an | |
| den Passkontrollschaltern getrennt worden sei. Sie seien zusammen in | |
| Antalya gewesen, am Meer spazieren, die Sonne genießen. Der Grenzer greift | |
| zum Telefon. „Folgen Sie mir“, sagt schließlich ein herbeigerufener | |
| Uniformierter. „Aber ich will doch nur nach Hause“, stottert der Mann. | |
| Der russische Grenzschutz führt immer wieder Reisende in graue Räume ab. | |
| Ukrainischen Frauen stellt er Fragen nach ihrem Aufenthaltsstatus und ihren | |
| weiteren Plänen, russischen Männern nach geleistetem Militärdienst und dem | |
| Dienstgrad, ausländischen Journalist*innen nach ihren Verbindungen zur | |
| Ukraine und ihrer Haltung zum Krieg, den die Offiziellen niemals so nennen. | |
| Es kann jeden treffen, der Grenzübergang ist ein sichtbarer Teil der | |
| Willkür, die den Alltag in Russland prägt. Der Staat zeigt seine Macht, der | |
| niemand entkommt. Und er sät Angst. | |
| „Sie haben ihn mitgenommen. Hoffentlich stecken sie ihm nicht gleich den | |
| Einberufungsbescheid zu“, sagt die Ehefrau des Abgeführten aufgeregt ins | |
| Telefon. „Wir waren doch einfach im Urlaub, haben nichts getan.“ Viele | |
| Russ*innen leben ein Leben, als ginge sie der Krieg nichts an – bis der | |
| Staat ihnen unmissverständlich klarmacht, dass sie ein Teil der | |
| Kriegsmaschinerie sind, letztlich Geiseln des Systems, das sie mittragen. | |
| ## Relikt aus Sowjetzeiten | |
| Die Frau weint ins Telefon. Ihren Mann kann sie nicht erreichen, ihr Kind | |
| hüpft zwischen den Koffern hin und her. „Man sollte lieber ruhig zu Hause | |
| hocken und sich bedeckt halten“, sagt sie dem Menschen am anderen Ende der | |
| Leitung, umarmt ihre Tochter und wartet an den Gepäckbändern zwischen | |
| Passkontrolle und Zoll. | |
| „Bloß nicht aufmucken“ ist ein Satz, der die Sowjetzeit überlebt hat, bis | |
| heute bestimmt er das Leben vieler Menschen im Land. Er wird von Generation | |
| zu Generation weitergegeben. [1][Die Menschen fügen sich dieser Haltung, | |
| der Satz hat sich als eine Art historisches Trauma in ihr Dasein | |
| geschlichen.] Wie auch nicht, wenn die Vorfahren abgeführt und erschossen | |
| wurden, weil sie aufgemuckt hatten? Weil sie das falsche Aussehen, die | |
| falsche Nationalität, die falschen Ansichten hatten? | |
| Jedes Aufmucken – und sei es nur ein kindliches Hinterfragen dessen, warum | |
| Zöpfe bei Mädchen im Kindergarten Pflicht sein sollen, oder ob nun wirklich | |
| jeder zum Schulausflug samt Kalaschnikow-Auseinandernehmen müsse – führt | |
| zur Vorführung und Erniedrigung dieses Aufmuckenden vor anderen. Es führt | |
| zum Bloßstellen, zum Aussortieren. Zur Ächtung von „Verrätern“, die | |
| angeblich das „Normale“ – das Traditionelle, das Einzigartige, das | |
| Russische – besudelt hätten. | |
| Die Menschen in Russland lernen schnell, dass sie lediglich Ressource sind, | |
| vom Staat nach Belieben einsetzbar. Stellt das jemand in Frage und verlangt | |
| nach Menschsein, spürt er die Grenzen eines Systems, das der russische | |
| [2][Politikbeobachter Andrei Kolesnikow] mittlerweile als „hybriden | |
| Totalitarismus“ bezeichnet. | |
| ## Keine Schamgrenze | |
| Dabei gingen der allgemeine Gehorsam und die Gleichschaltung, die mittels | |
| Propaganda und Repression erreicht werde, mit freiwilligen Aktionen | |
| zugunsten des Staats einher. Denunzianten und Einverstandene bildeten so | |
| die Basis des Putin-Regimes. Erlaubt sei mittlerweile alles, es gebe keine | |
| Schamgrenze mehr, weil der Staat eine massenhafte Unmoral fördere. | |
| Lehrerinnen beschimpfen ihre Schüler als „Nichts“, schreien sie an, sie | |
| gehörten erschossen, weil die Jungs bei einer Schulveranstaltung nicht | |
| mitmarschieren wollten. Schüler*innen zeigen ihre Lehrer*innen an, | |
| weil diese angeblich das Handeln der Ukraine nicht vehement genug | |
| verurteilten. So ist es unabhängigen russischsprachigen Medien und | |
| Berichten von Organisationen zu entnehmen, die in Strafangelegenheiten | |
| helfen. | |
| Väter zerren ihre Töchter zur Polizei, weil diese die „falsche“ Haltung | |
| verträten. Staatsmedien berichten über Kinder, die die Sowjetunion nie | |
| erlebt haben und Stalin besingen. Tiktok-Videos zeigen Kinder, die zum Spaß | |
| bei ukrainischen Kindern anrufen, um ihnen zuzuschreien, diese mögen doch | |
| endlich krepieren. | |
| Das Koordinatensystem hat sich mit dem 24. Februar 2022 geändert. Wie das | |
| neue System aussieht und was es bedeutet, versteht niemand. Manche schlagen | |
| um sich, voller Aggressivität und Menschenverachtung, andere ziehen sich | |
| zurück, weil sie eingetrichtert bekommen haben, nicht aufzumucken. | |
| ## Anklage wegen Terrorismus | |
| Und weil sie gelernt haben, die Augen zu verschließen, weil | |
| Gleichgültigkeit sie vermeintlich schützt. Sie unterstützen das Regime, | |
| aktiv wie passiv, laut wie schweigend. Und sie akzeptieren das Land als | |
| Gefängnis, in dem niemand etwas darf, weil sonst etwas Schlimmes passieren | |
| könnte. Sie leben quasi im Versteck, jede:r für sich. | |
| Freies Denken in einem unfreien Land führt zum direkten Zusammenprall mit | |
| der Staatsmacht. Es führt in die Zelle. An dem russischen | |
| Oppositionspolitiker Alexei Nawalny, der eine Vergiftung mit dem | |
| Nervenkampfstoff Nowitschok überlebte, führt der russische Staat gnadenlos | |
| vor, was geschieht, wenn einer, allen möglichen Warnungen zum Trotz, immer | |
| noch „aufmuckt“. | |
| Er sperrt ihn in Einzelzellen, er lässt keine Ärzte und Verwandten zu ihm, | |
| nicht einmal Briefe seiner Kinder erreichen ihn. Der Staat überhäuft ihn | |
| mit immer wieder neuen Anklagen, nun auch wegen Terrorismus. Er droht mit | |
| lebenslanger Haft. [3][Nawalny, gesundheitlich immer weiter geschwächt,] | |
| hört nicht auf, sich für seine Rechte als Mensch einzusetzen, der Staat | |
| nimmt ihm langsam das Leben. | |
| Wie er auch dem Moskauer Oppositionspolitiker [4][Ilja Jaschin das Leben zu | |
| nehmen versucht, indem er ihn wegen „Diskreditierung der Armee“] für | |
| achteinhalb Jahre ins Gefängnis sperrt. Jaschin hatte in einer | |
| Youtube-Sendung über die Gräueltaten der russischen Armee in Butscha | |
| informiert. | |
| ## Zerschlagene Opposition | |
| Der Moskauer Kommunalpolitiker Alexei Gorinow bekam sieben Jahre Haft, | |
| ebenfalls wegen „Diskreditierung der russischen Armee“. Gorinow wagte es, | |
| einen Malwettbewerb für Kinder infrage zu stellen, während nicht einmal | |
| 1.000 Kilometer weiter ein Krieg tobt. | |
| Der russisch-britische Oppositionspolitiker [5][Wladimir Kara-Mursa wurde | |
| zu 25 Jahren Haft wegen „Staatsverrats“ verurteilt.] Er hatte im Ausland | |
| den russischen Staat kritisiert. Lilia Tschanyschewa drohen 12 Jahre Haft | |
| wegen Extremismus. Die 41-Jährige hat Nawalnys Organisation in Ufa, knapp | |
| 1.500 Kilometer östlich von Moskau, geleitet. Und Jewgeni Roisman, dem | |
| Ex-Bürgermeister von Jekaterinburg, drohen fünf Jahre Haft, ebenfalls wegen | |
| „Diskreditierung der russischen Armee“. | |
| Doch längst trifft es nicht mehr nur Vertreter*innen der zerschlagenen | |
| Opposition. Der Moskauer Juri Samoilow war mit der Metro unterwegs, als | |
| zwei Polizeibeamte erst sein Telefon sehen wollten und ihn dann abführten. | |
| 15 Tage Haft, weil er „falsches Material“ im Handy angeschaut haben soll. | |
| Ein Mitfahrer hatte ihn beim Lesen von Texten beobachtet, die Russlands | |
| Taten in der Ukraine hinterfragten. Er rief die Polizei. | |
| In Krasnodar, nah der russisch-ukrainischen Grenze, hatten sich Olesja und | |
| Iwan Owtschinnikow in einem Restaurant darüber unterhalten, welche | |
| Untaten in russischem Namen in der Ukraine geschehen. Die Polizei rückte | |
| an, warf sie zu Boden, ein Gericht ordnete 15 Tage Haft und eine Geldstrafe | |
| an. Die beiden hätten die russische Armee „diskreditiert“. | |
| ## Ein Schwebezustand | |
| Jede kritische Äußerung ist potenziell gefährlich. Was gestern richtig war, | |
| kann heute falsch sein und morgen wieder richtig. Es ist ein | |
| Schwebezustand, von Schikanen und Willkür geprägt, der Schadenfreude und | |
| Verbitterung hervorbringt. Die Menschen unterwerfen sich teils vollkommen | |
| gedankenlos der Apathie. Manche folgen ihren totalitären Reflexen, weil sie | |
| dadurch ein Gefühl des Zusammenhalts erleben. Die Verwerfungen sehen sie | |
| nicht. | |
| „Wir leben, ohne das Land unter uns zu fühlen“, hatte der sowjetische | |
| Dichter Ossip Mandelstam 1934 geschrieben. Die Zeilen führten zu seiner | |
| ersten Verhaftung. Sie sind heute erschreckend aktuell. | |
| 28 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Inna Hartwich | |
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