# taz.de -- Russisches Bild von Russland: In Parallelwelten | |
> Den Blick, den Russ*innen auf ihr eigenes Land haben, hängt stark davon | |
> ab, ob sie im Land oder im Exil leben. Das hat auch viel mit Selbstschutz | |
> zu tun. | |
Bild: Das Leben geht weiter, und für die Dagebliebenen besteht es nicht nur au… | |
Mehr als ein Jahr ist seit Kriegsbeginn vergangen, und in diesem Zeitraum | |
wurde die Kluft zwischen den Russen, die gegangen und denen, die im Land | |
geblieben sind, sichtbar. Und diese Kluft wird immer größer. | |
Ich spreche hier nicht von Gegnern und Befürwortern des Krieges, das wäre | |
ja verständlich. Sondern ausschließlich über diejenigen, die weder das | |
Putin-Regime noch den Überfall auf die Ukraine unterstützen. Ich spreche | |
von Meinungen über Sicherheit, Gegenwart und Zukunft. | |
Diejenigen, die Russland verlassen haben, sind eher pessimistisch. Sie | |
wundern sich nicht sonderlich über jedes neue, noch repressivere Gesetz, | |
jede neue brutale Festnahme und Verurteilung. In der Duma spricht man über | |
die Todesstrafe? Klar, die wird eingeführt, zweifelt daran jemand? | |
[1][Elektronische Einberufungen] durch staatliche Stellen? [2][25 Jahre für | |
den Kreml-Kritiker Wladimir Kara-Mursa?] Und darüber wundert sich noch | |
jemand? | |
Diejenigen, die im Land geblieben sind, sagen dagegen oft Dinge wie:“Moment | |
mal, noch ist die Todesstrafe aber nicht eingeführt“, „man weiß nicht, wer | |
da was in der Duma gesagt hat, aber der Gesetzentwurf ist noch gar nicht | |
eingebracht worden“, „elektronische Einberufungen kann man ignorieren, es | |
gibt noch gar kein entsprechendes Gesetz“. Sie operieren mit den früheren | |
Begriffen von „Gesetz“, „Verfassung“, „Bürgerrechte“, über die die | |
Emigranten nur höhnisch lachen können. Hat sich doch in den vergangenen | |
anderthalb Jahrzehnten gezeigt, dass diese Worte langsam aber unaufhaltsam | |
ihre Bedeutung verloren haben. Und heute nichts mehr bedeuten und absolut | |
nichts mehr garantieren. | |
Ich denke, es stimmt, dass wir Fortgegangen uns von der Realität entfernt | |
haben. Aber was man unter „Realität“ versteht, muss man jetzt erst mal | |
definieren. | |
Von der innerrussischen Realität haben wir uns tatsächlich entfernt. | |
Diejenigen, die Russland verlassen haben, haben ihr Wissen über das Land | |
jetzt durch die Nachrichten und durch das, was Freunde und Bekannte ihnen | |
erzählen, also nur noch mittelbar. Und die Nachrichten über Russland sind | |
jeden Tag voller Horror: Verhaftungen, Überwachung, Repressionen, | |
Denunziationen, Sanktionen, Inflation, Mobilmachung, Prigoschin, | |
Rekrutierungen, [3][Terroranschlag im Zentrum von St. Petersburg], | |
Todesstrafe – so könnte man unendlich weiter machen. | |
Wir haben jedoch keine direkten Eindrücke aus dem Land, und mittlerweile | |
ist in Moskau Frühling. Die Menschen flanieren fröhlich auf den | |
Uferpromenaden und den großen Straßen, Cafés und Bars sind voller Leute, | |
die Läden voller Lebensmittel. Die Metro funktioniert besser als in Berlin | |
oder New York. Arbeitslosigkeit gibt es offenbar keine und auf den Straßen | |
sind weder Panzer noch Bären unterwegs. [4][Der schreckliche Buchstabe Z | |
ist kaum zu sehen]. | |
Das Leben geht weiter, und für die Dagebliebenen besteht es nicht nur aus | |
schrecklichen Nachrichten, sondern auch aus all den anderen Eindrücken der | |
russischen Wirklichkeit. Und wenn ich meine Laptop zuklappe wegen all der | |
Horrormeldungen, hinausgehe und das friedliche Rigaer Leben sehe, denke | |
ich: „Gut, dass ich hier bin, in Sicherheit“. Während meine Kollegin in | |
Moskau mit dem selben Horror ihren Laptop zuklappt, auf die Pokrowkastraße | |
im Stadtzentrum tritt und denkt: „Es ist nicht alles schlecht, man kann | |
leben“. | |
Es ist diese Kluft, über die ich rede. Und obwohl unsere beiden Realitäten | |
gleich real sind, scheinen sie immer weniger kompatibel miteinander zu | |
sein. Und damit habe ich die tragischen Folgen dieses schrecklichen Krieges | |
schon erklärt. | |
Aus dem Russischen [5][Gaby Coldewey] | |
Finanziert wird das Projekt von der [6][taz panter Stiftung]. | |
Ein Sammelband mit den Tagebüchern ist im [7][Verlag edition.fotoTAPETA] | |
erschienen. | |
6 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Maria Bobyleva | |
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