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# taz.de -- Schwarz-rote Koalition in Berlin: Mann ohne Vergangenheit
> Wenn die SPD wie versprochen mitzieht, wird Kai Wegner am Donnerstag im
> Abgeordnetenhaus zum Regierenden Bürgermeister gewählt.
Bild: Fast am Ziel seiner Wünsche: CDU-Chef Kai Wegner soll am Donnerstag Regi…
Berlin taz | „Der glaubt das wirklich“, sagte der Journalistenkollege mit
Blick auf den Mann, der einige Meter weiter schon wieder Hände schüttelte.
Erst einige Monate zuvor CDU-Landeschef geworden, war Kai Wegner an diesem
Vormittag erneut in der Stadt unterwegs, wie so oft schon seit seiner Wahl
an die Parteispitze und diesmal unter Pressebegleitung. 300 Terminen seien
es binnen der ersten 100 Tage gewesen, rechneten seine Mitarbeiter damals
vor. Und immer wieder waren vor allem zwei Sätze von Wegner zu hören: „Ich
will Rot-Rot-Grün ablösen“ und „Ich brenne für Berlin“.
Auch an jenem warmen Augustmorgen war das so, als Wegner bei einer
Grundschule in Köpenick vorbeischaute, sich aufmerksam und als ob es nichts
Drängenderes gäbe, den Wunsch nach einer größeren Mensa anhörte und dabei
Kartoffeln mit Gemüse aß. Persönlich glaubhaft, aber völlig unrealistisch
schienen seine Sätze angesichts von nur 16 bis 17 Prozent für die CDU in
den Meinungsumfragen.
Mehr als dreieinhalb Jahre ist das her. Bei Rot-Rot-Grün konnte Wegner
seine Ablösungsankündigung noch nicht wahr machen – aus der
Abgeordnetenhauswahl im September 2021 ging die CDU nur als zweitstärkste
Partei knapp vor den Grünen hervor.
Beim Nachfolgebündnis Rot-Grün-Rot hingegen klappte es: Die
Wiederholungswahl vor knapp elf Wochen, vom Verfassungsgericht wegen großer
Wahlpannen angeordnet, gab Wegner eine zweite Chance. Die nutzte er:
[1][28,2 Prozent der Stimmen erhielt die CDU] am 12. Februar, so viel wie
noch nie in diesem Jahrhundert in Berlin, weit vor SPD und Grünen mit je
18,4 Prozent. An diesem Donnerstag vollzieht sich die Ablösung offiziell,
wenn Wegner im Abgeordnetenhaus zum neuen Regierenden Bürgermeister gewählt
wird und vereidigt ist – bis exakt zu jenem Moment ist laut
Landesverfassung Franziska Giffey (SPD) mit der rot-grün-roten Regierung
im Amt.
Der CDU-Mann, der dann das Chefbüro im Roten Rathaus übernimmt, könnte von
Hintergrund und Werdegang durchaus in die klassische Aufsteigergeschichte
passen, die eher von SPD-Politikern zu hören ist: nicht aus reichem
Elternhaus, der Vater Bauarbeiter, die Mutter Einzelhandelskauffrau.
Schulabschluss ohne Abitur – das nächtliche Jobben für einen Wachschutz
soll letztlich nicht vereinbar mit aufmerksamer Unterrichtsteilnahme
gewesen sein, war jüngst von ihm zu erfahren, folglich auch kein Studium.
Mit um die 20 wirkte Kai Wegner noch nicht in der Erfolgsspur Richtung
Rotes Rathaus. Sein Weg: Lehre zum Versicherungskaufmann und später
Mitglied der Geschäftsführung in einem Bauunternehmen. Parallel dazu der
Weg durch die Partei: nach Führungsämtern bei Schüler-Union und Junger
Union über alle CDU-Stationen und parlamentarischen Ebenen. 1995 kam er in
die Bezirksverordnetenversammlung in Spandau, 1999 ins Abgeordnetenhaus und
2005, mit nur 33 Jahren, in den Bundestag.
Parallel dazu machte am anderen Ende Berlins ein nur wenig jüngerer, aber
gedanklich wie geografisch weit von ihm entfernter junger CDUler seinen
Weg: Mario Czaja, der liberale heutige Generalsekretär der Bundespartei, zu
Hause in Mahlsdorf-Kaulsdorf. Dem fiel so manches leichter als Wegner, der
bei Weitem nicht so gut reden konnte und auch heute nicht kann wie Czaja
und dessen Haar sich schon stark lichtete, als Glatze mit kurzrasiertem
Resthaar noch nicht so angesagt war wie heute.
Auch politisch trennte die beiden viel. Wegner selbst sagt sinngemäß von
sich, dass er mit dem auch aus seiner Sicht sehr konservativen Kai Wegner
von vor 20 und mehr Jahren nicht mehr viel anfangen könne. Und wann immer
der gleichfalls in Spandau aufgewachsene, fünf Jahre jüngere SPD-Chef Raed
Saleh auf den frühen Wegner zu sprechen kommt, deutet er ebenfalls
schlechte Erinnerungen an.
Schon vor über einem Jahrzehnt aber fing Wegner an, sich um engere Kontakte
zu den Grünen zu bemühen – noch kurz vor der Abgeordnetenhauswahl nannte er
Schwarz-Grün gegenüber der taz „meine Traumkoalition“. Vor allem seine gu…
Beziehung zum Grünen-Fraktionschef Werner Graf, Fußballfan wie er, hob
Wegner zuletzt hervor. „Werner und ich reden nicht nur über Hertha“, sagte
er [2][im Januar im taz-Interview.] In den Sondierungsgesprächen nach der
Wahl vom 12. Februar schien das in Berlin schier Unvorstellbare kurzzeitig
in Reichweite, man sei sich näher als je zuvor gekommen, war auch von
Grünen zu hören.
Zudem war Wegner eine führende Kraft, als sich 2015 CDUler [3][in einer
Fotoaktion für die Ehe für alle] einsetzten – anders etwa als die immer als
liberal etikettierte spätere Landesvorsitzende Monika Grütters, die das als
damalige Kulturstaatsministerin mit Rücksicht auf ihre Chefin Angela Merkel
erklärte.
Mario Czaja aber verortete Wegner noch 2021 weiter im rechtskonservativen
Lager, er [4][sagte im Tagesspiegel damals]: „Kai Wegner ist aus meiner
Sicht dichter an den Positionen von Hans-Georg Maaßen als an denen von
Angela Merkel und denen unseres Bundesvorsitzenden Armin Laschet.“ Von
einem „riskanten Rechtskurs“ sprach Czaja dabei. Kaum vier Wochen vor
dieser Attacke hatte der von Wegner geführte Landesvorstand die Forderung
Czajas nach einem sicheren Listenplatz für ihn als Ostberliner [5][bei
einem Parteitag] nicht unterstützt.
Inzwischen hat der eine ohne Listenunterstützung das Bundestagsmandat in
der langjährigen Linken-Hochburg Marzahn-Hellersdorf gewonnen und ist auch
deshalb CDU-Generalsekretär geworden. Der andere wird, wenn die SPD im
Abgeordnetenhaus wie versprochen mitspielt, seine Partei am Donnerstag nach
fast 22 Jahren ins Rote Rathaus führen. Schon ein Parteitag im Sommer 2022
zeigte: Man hat sich arrangiert. Er und Wegner seien [6][wie ein altes
Ehepaar], sagte Czaja dabei, „man streitet sich zwar manchmal, aber es gibt
viel mehr, was uns verbindet“.
[7][„Schwarz, aber schillernd“ hat Berlins Ex-Regierungschef Klaus
Wowereit] diese Woche als Motto für Wegners Amtszeit vorgeschlagen – er
selbst kreierte vor 20 Jahren in der von ihm geführten rot-roten Koalition
den viel zitierten Spruch, Berlin sei „arm, aber sexy“. Den beschaulich in
Kladow an der Havel wohnenden Wegner, Vater dreier Kinder, geschieden und
mit seiner früheren Büroleiterin liiert – aber mit freundschaftlichem
Verhältnis zur Ex-Frau, wie er jüngst [8][der Illustrierten Bunte
anvertraute] – ausgerechnet mit „schillernd“ zu verbinden, klang durchaus
skurril.
Aber wirkte es nicht auch höchst weltfremd, als ein zwar sehr motivierter,
aber nicht sonderlich beliebter oder bekannter CDU-Politiker im Sommer 2019
neben einer Köpenicker Schulmensa den Regierungswechsel ankündigte? Und wer
hätte denn geglaubt, dass der Vorsitzende einer lange von Männern
dominierten konservativen Partei einst einen Senat anführen würde, in dem
auf sieben von elf Plätzen Frauen sitzen? Gemessen daran könnte die
Beschreibung schillernd durchaus Wirklichkeit werden.
26 Apr 2023
## LINKS
[1] https://wahlen-berlin.de/wahlen/BE2023/AFSPRAES/agh/index.html
[2] /Kai-Wegner-CDU-zur-Wahlwiederholung/!5911539
[3] /Debatte-um-Homo-Ehe-in-Berliner-CDU/!5209427
[4] https://www.tagesspiegel.de/berlin/mario-czaja-greift-spitzenkandidat-kai-w…
[5] /Landesparteitag-der-CDU/!5766913
[6] /Landesparteitag-der-Christdemokraten/!5858325
[7] https://www.inforadio.de/rubriken/interviews/2023/04/25/koalition-spd-cdu-b…
[8] https://www.bunte.de/stars/stars-die-liebe/politiker-kai-wegner-meine-neue-…
## AUTOREN
Stefan Alberti
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