# taz.de -- CO2 und fossile Energien: Klimawissen systematisch ignoriert | |
> Exxon und Shell wussten um die Klimaschädlichkeit von fossilen | |
> Energieträgern. Doch auch ein anderer wichtiger Akteur hätte handeln | |
> können. | |
Bild: Der Klimawandel begünstigt Extremwetterereignisse – hier nach heftigen… | |
STEPHANSKIRCHEN taz | Nicht nur die Ölkonzerne Exxon und Shell wussten, wie | |
[1][schädlich fossile Energiequellen und CO2-Emissionen] sind. Erkenntnisse | |
zeigen, dass bereits seit den 80er Jahren die Bundesregierungen und der | |
Bundestag über die Informationen verfügten. | |
Unter Vorsitz der Grünen hatte der Ausschuss für Forschung und Technologie | |
des Bundestags Anfang der achtziger Jahre eine [2][„Studie über die | |
Auswirkungen von Kohlendioxidemissionen auf das Klima“] in Auftrag | |
gegebenen. Wissenschaftler vom Institut für Atmosphärische Chemie an der | |
Kernforschungsanlage Jülich und der Forschungsstelle für Angewandte | |
Klimatologie und Umweltstudien der Universität Münster hatten sie | |
durchgeführt. | |
Der Abschlussbericht wurde im November 1983 in der Schriftenreihe „Berichte | |
der Kernforschungsanlage Jülich“ herausgegeben und an die Auftraggeber | |
ausgehändigt. Wörtlich heißt es darin: „Soll eine drohende Klimakatastrophe | |
mit Sicherheit verhindert werden, so müssen die notwendigen Schritte sofort | |
und unverzüglich eingeleitet werden.“ | |
Die Frage, wer wann etwas wusste, ist Anfang des Jahres in den Fokus | |
geraten. Da belegte eine im Magazin [3][Science veröffentlichte Studie], | |
dass beim US-Mineralölkonzern Exxon arbeitende Wissenschaftler*innen | |
seit den 1970er Jahren erstaunlich genaue Vorhersagen über den Klimawandel | |
getroffen hatten. Doch in der Folgezeit widersprach das Unternehmen in | |
seinen öffentlichen Äußerungen den eigenen Daten. Die Erderwärmung wurde | |
angezweifelt, die Klimamodelle wurden als Spekulation schlechtgeredet. | |
Naomi Oreskes, Professorin für Wissenschaftsgeschichte in Harvard und | |
Co-Autorin der Studie, befasst sich schon seit Jahren mit der Historie von | |
Exxon. Sie spricht mit Blick auf ExxonMobils Desinformation von | |
„Heuchelei“. Und Exxon ist kein Einzelfall. Auch Shell hatte ab 1988 | |
Ergebnisse ähnlicher eigener Studien geheim gehalten. | |
## Präzise Vorhersagen | |
Viele der heutigen Kernaussagen der Klimawissenschaft sind auch in der | |
Jülicher Studie von 1983 zu finden. Die genannten Folgen der Klimaerhitzung | |
lesen sich wie die Vorwegnahme der heutigen Katastrophenmeldungen: Änderung | |
von atmosphärischer und ozeanischer Zirkulation, „Verlagerung der | |
Klimaregionen“, stärkere Erwärmung der Arktis, „Anstieg des | |
Meeresspiegels“, „extreme Wettersituationen“, Überschwemmungen, | |
Auswirkungen auf die Nahrungsmittelversorgung bis hin zu „globalen | |
Verteilungskämpfen“. | |
Es wurden Prozesse vorhergesagt, die Klimawissenschaftler heute tatsächlich | |
beobachten und messen: [4][die Destabilisierung des westantarktischen | |
Eisschildes] und die dramatische Abnahme des Meereises im Arktischen Ozean. | |
„Wir wussten in den 80er Jahren schon alles. Die Klimamodelle waren nicht | |
so genau wie heute, aber wir wussten, was CO2-Emissionen bewirken und | |
welche Auswirkungen die Klimaerwärmung hat“, sagt Andreas Volz-Thomas. Der | |
inzwischen pensionierte Atmosphären- und Klimaforscher ist einer der | |
Hauptautoren der Studie. Aus der Analyse von Wetterdaten sei sogar schon zu | |
erkennen gewesen, dass Temperaturveränderungen im Wettersystem vermehrt | |
Extremwetterereignisse erzeugen würde. | |
Mit Blick auf die „potentielle Gefahr durch CO2“ heißt es in der Studie von | |
1983, dass anpassungsfähige Energiesysteme entwickelt werden müssten, die | |
es erlauben, „technische Neuerungen zum Ersatz von Kohle etc. möglichst | |
rasch und ohne großen Kostenaufwand einzuführen“. Denn klar sei, dass eine | |
einmal installierte Kapazität an ausschließlich fossil ausgerichteten | |
Anlagen nur nach Jahrzehnten wieder abgebaut werden würde. | |
## Papier war nicht geheim | |
Die Autoren benennen sogar schon die hohen Kosten einer CO2-Entfernung aus | |
der Atmosphäre sowie das Problem der Endlagerung. Und vorausschauend wird | |
dargelegt, dass die Nutzung von Pflanzen als Kohlenstoffspeicher wegen des | |
Anbauflächenbedarfs „in Konkurrenz zur Ernährungssicherung“ steht. | |
Inhaltlich kam die Jülicher Studie zu den gleichen Ergebnissen wie die | |
Exxon-Untersuchungen. Anders als die Erkenntnisse des Ölkonzerns wurde das | |
Jülicher Papier nicht geheim gehalten. Es gehört zum Bestand der | |
Präsenzbibliothek des Deutschen Bundestags, ist für Parlaments- und | |
Regierungsmitglieder frei zugänglich. Und über Jahre wurde es durch | |
weitere, präzisere Forschungsergebnisse ergänzt, die den Handlungsbedarf | |
umso dringlicher gemacht haben. | |
Gleichwohl kommt der Studie von 1983 herausragende Bedeutung zu. Sie zeigte | |
vielschichtig mögliche Handlungsalternativen – zu einem Zeitpunkt, zu dem | |
das Konglomerat der Krisen, die heute das Leben der Menschen belasten, | |
leicht hätte vermieden werden können. | |
## Energieeffizientere Technologien ersetzen die alten | |
„Im gesamten Autorenteam waren wir uns einig, dass wir | |
Handlungsalternativen zeigen müssen. Und dass wir das alles so einfach | |
formulieren müssen, dass es auch Politiker verstehen“, sagt Volz-Thomas. | |
Für die damalige Zeit seien Aufbau und Sprachgebrauch der Studie unüblich | |
gewesen. Heute, in den IPCC-Berichten, ist das Standard. | |
Die Studie von 1983 betrachtet auch die Entwicklung des Energieverbrauchs | |
und stellt verschiedene Szenarien und Projektionen gegenüber. Darunter ist | |
ein konsequentes Effizienzszenario von 1981, das vom Umweltbundesamt in | |
Auftrag gegeben worden war („Energy Strategy for Low Climate Risks“). Es | |
setzt darauf, dass energieeffizientere Technologien die alten, weniger | |
konkurrenzfähigen Technologien ersetzen – auch im Energiesektor. | |
Das Szenario betrachtet die Entwicklung bis 2030 und kommt zu dem Ergebnis, | |
dass in jenem Jahr über 80 Prozent des Energiebedarfs „ohne allzu große | |
Schwierigkeiten durch das relativ hohe Potential regenerativer | |
Energiequellen gedeckt werden kann“. Das sei sogar global und mit | |
Einrechnung des Nachholbedarfs der Entwicklungsländer möglich. | |
## Bundestag missachtet das Wissen | |
Der Bundestag und die damals amtierende sowie die nachfolgenden | |
Bundesregierungen haben das in der Studie zusammengetragene Wissen und die | |
darauf gestützten Empfehlungen missachtet. Klimaschutz taucht zwar seit | |
1990 in Form von Absichtserklärungen auf – doch die wurden regelmäßig | |
ausgeblendet, wenn sie den Entwicklungspfad der fossilen Energiewirtschaft | |
hätten beeinträchtigen können. | |
Davor hatten die Autoren der Studie schon vorsorglich gewarnt, denn „eine | |
Entscheidung zugunsten fossiler Brennstoffe legt den CO2-Ausstoß für viele | |
Jahrzehnte fest“. | |
Eine Recherche im Archiv des Deutschen Bundestags offenbart, dass in der | |
Zeit nach Überreichung der Studie zahlreiche Anträge, Beschlussempfehlungen | |
und Entschließungen zugunsten der fossilen Energieträger folgten. Unter | |
anderem nahm die Politik sich vor, dass mehr Kohle im Energiesektor | |
verbraucht wird – ein Verhalten, das sich nicht von [5][Exxons und Shells | |
Betrug an der Menschheit] unterscheidet. | |
## Studie wurde trotz Deutlichkeit ignoriert | |
„Ich habe nicht verstanden, dass unsere Studie nicht verwendet wurde. Es | |
ist nichts passiert mit dem Papier“, sagt Volz-Thomas. „Furchtbar schade“ | |
sei das. Und auch die Studien, die später folgten und immer genauer wurden, | |
seien folgenlos geblieben. | |
Daran änderte sich auch nichts, als ab 1994 Umwelt- und Tierschutz ins | |
Grundgesetz kamen. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen wurde damals | |
als Staatsziel in Artikel 20a GG formuliert. Die Studie über die | |
Auswirkungen von CO2 in der Atmosphäre aber wurde trotz ihrer Deutlichkeit | |
weiterhin ignoriert. | |
Seit 1983 sind in Deutschland 68 Kohlekraftwerke mit jeweils mehr als 100 | |
MW Leistung neu gebaut, um zusätzliche Blöcke erweitert oder modernisiert | |
worden. Rechnet man die Gas- und Ölkraftwerke hinzu, sind es insgesamt 144. | |
Das Umweltbundesamt veröffentlicht Emissionsdaten ab 1990. Demnach haben | |
diese fossilen Kraftwerke seit 1990 über 12 Gt CO2-Emissionen verursacht. | |
Hinzu kommen andere Treibhausgas-, Schwermetall- und Feinstaubemissionen. | |
Die in der Studie von 1983 angesprochenen regenerativen Alternativen wurden | |
hingegen immer wieder in ihrer Verbreitung und Anwendung behindert. | |
24 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262 | |
[2] https://juser.fz-juelich.de/record/844967/files/J%C3%BCl_1877_Volz.pdf | |
[3] /Klimaforscher-ueber-Lobbymacht/!5916444 | |
[4] /Hohe-Temperaturen-in-der-Antarktis/!5844088 | |
[5] /Erderhitzung-durch-Treibhausgase/!5908674 | |
## AUTOREN | |
Andreas Sanders | |
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