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# taz.de -- Ausgezeichneter Inklusionschor: Inklusion braucht Seele – und Tö…
> Bei den Nogat-Singers singen Menschen mit und ohne Behinderung mit. Seit
> zwölf Jahren probt der inklusive Chor mit Leiter Michael Kuntze in
> Neukölln.
Bild: Chorleiter Michael Kuntze bei der Probe mit den Nogat-Singers
Berlin taz | Über das Gesicht von Michael Kuntze zieht sich ein breites
Lächeln, immer wenn er von seinem Chor erzählt. Er gießt
Instant-Kaffeepulver in seiner Tasse mit heißem Wasser auf und gibt einen
Schluck Milch dazu. Die Ärmel seines dunkelblauen Hemdes hat er
hochgekrempelt. Hervor scheint eine großflächige Tätowierung, die sich um
seinen linken Unterarm schlängelt und die Musiknoten von „Somewhere Over
The Rainbow“ auf seiner Haut verewigt. „Schweben über dem Regenbogen,
einfach unbeschwert und positiv in die Zukunft blicken – das ist mein
Motto“, erklärt er und summt die Melodie vor sich hin.
Eine halbe Stunde später ist Kuntze dann voll und ganz Chorleiter.
Kraftvoll, mit intensiven Bewegungen und vollem Körpereinsatz dirigiert er
die wöchentliche Probe des inklusiven Stadtteilchors [1][Nogat-Singers der
Lebenshilfe Berlin]. Er schreitet nach links, schreitet nach rechts. Macht
große Bewegungen mit den Armen. Er wippt auf den Füßen hin und her, er
stampft auf den Boden, er geht in die Knie, er springt in die Luft. Seine
volle Aufmerksamkeit gilt den Sänger:innen, die sich im Gewölbekeller der
Kiez-Kapelle des Neuen St. Jacobi Friedhofs in Neukölln eingefunden haben.
Zwischen den dicken, in strahlendem Weiß gestrichenen Säulen, die den Raum
in einer Doppelreihung durchziehen, sind Stühle aufgereiht. Auf diesen
sitzen die Sänger:innen und wiegen sich vereinzelt zum Klang der Musik.
Trotz der kleinen Fenster wird der Proberaum an diesem Freitagmittag von
hellem Licht durchflutet. „Erst war es ein wenig komisch, in einer
ehemaligen Leichenhalle zu proben“, sagt Kuntze. Schnell habe der Chor den
Raum jedoch mit positiver Energie füllen können. „Die bösen Geister haben
wir alle ausgetrieben“, lacht er. Rund 35 Mitglieder gehören zu den
Nogat-Singers. Mal kommen mehr, mal weniger, sagt der Chorleiter. In diesem
Jahr feiern sie ihr zwölfjähriges Jubiläum.
Kuntze selbst spricht von den Nogat-Singers als „einem Chor von Menschen
mit und ohne höheren Hilfebedarf“, oft nennt er sie aber auch einfach nur
„meine Süßen“. Unter den Mitgliedern sind Menschen mit geistigen
Behinderungen, mit körperlichen Behinderungen, Menschen mit psychischen
Einschränkungen, mit Trisomie 21. Daneben Betreuer:innen, die ihre
Klient:innen zur Probe begleiten – und auch selbst mitsingen.
## Das macht „großen Spaß“
Seit mehreren Jahren mit dabei ist Rosalinda Franz. Sie stellt sich als
„Rosa“ vor – und der Name ist Programm. Sie trägt Kleid und Leggins, bei…
überzogen von einem rosafarbenen Blümchenmuster. Die kurz rasierten Haare
sind pink, die Fingernägel ebenfalls. Rosalinda Franz wohnt im „Wohnen im
Verbund“ der Lebenshilfe in Neukölln. Sie arbeitet in einer
Behindertenwerkstatt, erzählt die 49-Jährige. Dort verpackt sie Autoteile.
Mitglied der Nogat-Singers zu sein, mache ihr großen Spaß. Ihr ganz
besonderes Highlight: Als eine von sechs Chormitgliedern wurde sie für
einen Auftritt im aktuellen Kinofilm „Wann wird es endlich wieder so wie es
nie war“ gecastet, eine Verfilmung des Bestsellers von Joachim Meyerhoff.
„Das war sehr aufregend“, sagt sie über die Dreharbeiten. Bei der Premiere
für Kleindarsteller:innen und Komparsen sei dann der komplette Chor
auf die Bühne geholt worden, berichtet Kuntze. Eine große Wertschätzung sei
das gewesen. Die Aufwandsentschädigung ist der Chorkasse zugute gekommen.
Damit wird die dreitägige Chorfahrt ins brandenburgische Bollmansruh im
Oktober finanziert.
Immer wieder gibt der Chorleiter während der Probe Anweisungen, erteilt
Verbesserungsvorschläge. „Die Einsätze sind noch etwas wackelig“ oder „…
ruhig, ganz zärtlich, wir erzählen eine Geschichte“. Die Texte singt er
auch selbst mit. Zwischen den Einsätzen hält er sich den Zeigefinger vor
den Mund, um die Gesangspausen des Chors zu signalisieren. „Wir punkten mit
einem Wechsel aus laut und leise, mit Staccato, abgehacktem Singen, mit
Flüstern und mit dem Aussteigen aus der Melodie ins Sprechen.“ So bekomme
jedes einzelne Lied seine eigene Interpretation, erklärt der Chorleiter.
Zweistimmig wird kaum gesungen, das sei zu schwer.
Die meisten Chormitglieder weisen eine Lernschwäche auf, sagt Kuntze. Etwa
80 Prozent könnten weder lesen noch schreiben. Und doch halten viele
während der Probe dicke rote Liedermappen in den Händen. Ordentlich
abgeheftet, durchnummeriert und in Klarsichtfolie gepackt: das Repertoire
der Nogat-Singers. 38 unterschiedliche Stücke, darunter Volkslieder,
Klassik, Schlager, 20er Jahre, Filmmusik.
## So ergänzt sich der Chor untereinander
„Es passiert schon mal, dass wir singen und jemand hat ein völlig anderes
Lied aufgeblättert.“ Viele könnten auch die Zahlen nicht, erklärt er
weiter, wollen sich aber nicht „die Blöße“ geben. Darauf ansprechen würde
er diejenigen nicht: „Ich sage dann immer: Du kannst das doch bestimmt
auswendig.“ Als Zuschauer:in hat man das Gefühl, jeder kenne den Text:
„Der eine kann ein Wort, der nächste zwei, der andere vielleicht drei oder
vier Wörter“, sagt Kuntze. So ergänzt sich der Chor untereinander.
Am Anfang jeder Probe stehen Atemübungen. Der sonst so „quirlige Haufen“,
wie Kuntze sagt, ist plötzlich still und fokussiert sich auf die Chorprobe.
Die Nogat-Singers bewegen ihre Hände, strecken und recken sich, massieren
das Gesicht. Zwei Mitglieder kommen zu spät: „Nicht lange reden, Jacken aus
und Platz nehmen“, weist Kuntze sie an. „Wir machen natürlich viele
Späßchen, lachen auch viel. Aber wenn ich dann sage Ruhe, dann ist auch
Ruhe.“ Nur wenn auch alle konzentriert sind, funktioniert das
Zusammenspiel.
Nach den Atemübungen folgt das Einsingen. Markus Bongartz begleitet die
Nogat-Singers an der Klarinette, der Chor singt die Töne des
Blasinstruments nach. „Die Menschen hier haben keinerlei Notenkenntnisse“,
erklärt er. Wie schnell sie sich Texte merken und Melodien nachsingen
können, das sei bemerkenswert: „Musik ist eben jedem Menschen gegeben.“
Kuntze sieht viele Vorteile in der Chormitgliedschaft für die Menschen mit
Behinderung: „Sie weinen, sie lachen, können sich austauschen und sind in
einer Gemeinschaft“, sagt er. Zudem schaffe die Chorprobe eine
Tagesstruktur, biete Abwechslung. „Musik schafft Emotionen“, da ist sich
der Chorleiter sicher. Die Menschen seien stolz darauf, ein Teil des großen
Chors zu sein. Sie genießen den Applaus bei Auftritten und spürten die
Wertschätzung.
## „Inklusion braucht Seele“
„Inklusion wird immer hoch beschworen“, sagt Kuntze, das sei ein „sehr
schönes Zauberwort“. Die Umsetzung sei dagegen schwierig. Oft fehle es an
Geld, an Personal, an Erfahrung. Den Chor bezeichnet Kuntze als gutes
Vorbild für Inklusion. Doch das erfordere auch hier vor allem Geduld:
„Dadurch, dass viele nicht lesen und schreiben können, sagen wir die Texte
zehn-, zwanzigmal auf, damit so viel wie möglich hängen bleibt“, erklärt
er. So sprechen auch nichtbehinderte Menschen des Chors den Text immer
wieder nach. Das müsse man schon wollen, sonst klappt es nicht. „Inklusion
braucht Seele“, sagt der Chorleiter. Und Seele haben die Nogat-Singers.
Die Altersspanne im Chor ist groß. Das jüngste Mitglied ist 19, die älteste
Sängerin, Monika Grieß, feiert am heutigen Probentag ihren 82. Geburtstag.
Sie hat für alle Kuchen mitgebracht. Für den Inklusionschor der
Nogat-Singers hat sie sich gezielt entschieden. Als sie 2013 das erste Mal
zur Probe kam, wurde sie sofort herzlich begrüßt, erinnert sie sich, alle
seien offen auf sie zugekommen. „Andere Chöre sind nicht so impulsiv, nicht
so deutlich“, sagt Grieß. Der Kontakt zu Menschen mit Behinderungen mache
ihr Freude. „Die Menschen haben ein Leiden, aber tragen das nicht auf den
Lippen“, sagt sie.
Bevor er die Leitung des Chors übernahm, studierte Kuntze klassischen
Gesang an der [2][Hochschule für Musik Hanns Eisler] in Berlin. Nach der
Maueröffnung trat er im Theater des Westens auf, arbeitete später acht
Jahre lang als Opernsänger in Wien. Dann der Schock: Er verliert seine
Stimme. Er sei aufgetreten, obwohl er krank war. Habe sich Kortison
spritzen lassen und einfach weitergesungen. „Davon ist meine Stimme
kaputtgegangen, ich konnte überhaupt nicht mehr singen.“ Er kehrt zurück
nach Berlin, beginnt als Verkäufer bei einer Modekette. Bis er zum Gesang
zurückfindet, dauert es vier lange Jahre.
2011 tritt Kuntze dann beim ersten Hoffest der Lebenshilfe in Neukölln auf.
„Es fing an zu regnen“, erinnert er sich, „aber alle Klienten sind sitzen
geblieben und haben mitgesungen.“ Eine tolle Stimmung. Daraufhin entstand
die Idee eines Chors. Vier Leute seien zur ersten Probe erschienen –
immerhin. Der Chorleiter blickt zurück: „Vorher hatte ich nie Erfahrungen
mit einer Chorleitung.“ Er habe keine Erwartungshaltung gehabt, habe den
Chor ohne Fachkenntnisse, stattdessen rein intuitiv geleitet. Und dann
kamen immer mehr Menschen dazu. Der Chor wurde größer, die Texte
anspruchsvoller.
## „Musik verbindet“
Was dann passierte, das beschreibt der Chorleiter heute als Phänomen. „Es
wurden Töne gesungen, die ich noch nie gehört habe, weil sie so klar, so
schön und natürlich waren.“ Der Chor singe von innen heraus, voller Gefühl,
schwärmt er. „Musik drückt etwas aus, wofür es keine Worte gibt. Musik
verbindet.“
Die Erlebnisse mit dem Chor haben Kuntze schließlich in die soziale Arbeit
geführt, erzählt er heute. Mit 54 Jahren beginnt er eine dreijährige,
berufsbegleitende Ausbildung zum Erzieher, schließt sie im Februar dieses
Jahres ab. Bei der Lebenshilfe als Betreuer zu beginnen, das sei für ihn
aber keine Option: „Ich will keine Vermischung zwischen Betreuer und
Chorleiter“, sagt er. Stattdessen ist er für die Aktion Weitblick tätig.
Als der Chor das Lied „Zusammenleben“ singt, ist Rosalinda Franz sichtlich
gerührt. Tränen laufen ihre Wangen herunter. Sie fasst mit einem Arm nach
hinten, um die Hand einer Chorsänger:in auf dem Stuhl schräg hinter ihr
zu halten. Über den Gesang der Chormitglieder hinweg hört man Rosa
lautstark schluchzen. Ihr rechter Sitznachbar beginnt, ihr zärtlich zum
Trost den Kopf zu streichen. Auch der Chorleiter hält kurz inne, um eine
Hand auf ihre Schulter zu legen.
Die meiste Zeit aber geht es fröhlich in der Chorprobe zu. Für kleinere
Choreografien oder spontane Tanzeinlagen stehen die Nogat-Singers von ihren
Stühlen auf. „Es darf getanzt werden, gelacht werden“, beginnt Kuntze. „…
geliebt werden!“, unterbricht ihn ein Chormitglied. Einige werfen sich
Kusshände zu, andere schunkeln hin und her. Es bilden sich Tanzpaare, die
sich gegenseitig unter den Armen hindurch drehen.
Zum großen Finale singt der Chor „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“.
Die Nogat-Singers bewegen die Arme, als würden sie Streichinstrumente
spielen. „Habt Spaß“, ruft Chorleiter Kuntze, „es ist der letzte Song.“
19 Apr 2023
## LINKS
[1] https://www.lebenshilfe-berlin.de/de/aktuelles/meldungen/2022/nogat-singers…
[2] https://www.hfm-berlin.de/
## AUTOREN
Lea Fiehler
## TAGS
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