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# taz.de -- Filmporträt eines Senioren-Chores: Alt ist eine tolle Stimmlage
> In seinem Dokumentarfilm „Heaven Can Wait – Wir leben jetzt“ porträtie…
> Regisseur Sven Halfar einen Hamburger Chor für Menschen jenseits der 70.
Bild: Hat Spaß am Singen: der Chor „Heaven Can Wait“
„Richtig singen – das machen andere!“, sagt der Chorleiter Jan-Christof
Scheibe und ermutigt mit diesem Satz die Sängerinnen und Sänger seines
[1][Hamburger Chors „Heaven Can Wait“] dazu, in ihrem Gesang ihre Gefühle
zu offenbaren. Die richtigen Töne zu treffen ist dagegen nicht so wichtig.
Eine lupenreine Intonation kann man von Menschen im Alter von über 70
Jahren, von denen die meisten zuvor noch nie in einem Chor und in der
Öffentlichkeit gesungen haben, nicht erwarten. Das Mindestalter von 70
Jahren ist die einzige Aufnahmebedingung – viele Mitglieder sind über 80
und Ruth ist mit 96 Jahren die Älteste.
„Im Alter schrumpft man ja!“, sagt die zierliche Frau in die Kamera, aber
damit meint sie offensichtlich nur ihre Körpergröße, denn in diesem Film
ist zu sehen, wie agil und voller Lebensfreude sie und eine Handvoll ihrer
Chorfreundinnen und -freunde noch sind. „Als ich 17 war, war ich einsamer
als jetzt“, sagt etwa die 79-jährige Moni, und auch dieser Satz wird durch
die Bilder des Films glaubwürdig. Denn [2][Regisseur Sven Halfar] zeigt
mit seinen Aufnahmen von Chorproben, dem aufgeregten Gewusel in den
Umkleideräumen vor dem Auftritt und Konzertaufnahmen aus dem „St. Pauli
Theater“, wie intensiv der Zusammenhalt dieser Gruppe alter Menschen ist
und mit wie viel Begeisterung sie singen.
Und dann sind da diese Porträtbilder: Nahaufnahmen ohne jede
Tiefenschärfe. Da sind schon die Ohren unscharf, und die Falten in den
Gesichtern werden nicht mit dem Kamera-Weichzeichner kaschiert, sondern
stattdessen akzentuiert. Die Bilder sind ein Statement: Um diese Menschen
geht es und wie sie ihr Leben gelebt haben, das kann man in ihren
Gesichtern und an ihren Körpern sehen.
Dramaturgisch arbeitet Sven Halvar mit ähnlichen Mitteln, denn auch hier
blendet er all das aus, was von der Essenz des Films ablenken würde. So
erfährt man kaum etwas darüber, wie der Chor organisiert ist und welche
Rolle etwa das St. Pauli Theater für sein Fortbestehen spielt. Bei einigen
Proben begleitet eine Band den Chor, aber es gibt keinen einzigen
Kameraschwenk auf die Musiker*innen und ihre Instrumente. Selbst der
Chorleiter Jan-Christof Scheibe spielt hier eher eine Nebenrolle, und dass
eine der Sängerinnen im Chor seine Mutter ist, erfährt man nebenbei erst
spät im Film.
## Nie morbide oder sentimental
Gefeiert werden im Film dafür Moni, Ingrid, Ruth, Volker und Diet: Und
natürlich Joanne Bell. Sie ist der Paradiesvogel des Chors: eine Schwarze
Opern- und Musicalsängerin, die einst aus Kalifornien nach München gezogen
ist und jetzt noch als 83-Jährige mit ihrer Band „[3][The Three Ladies Of
Blues]“ auf Tour geht. Bei den Auftritten des Chors ist sie oft der Joker
und Nachbrenner: die Solistin, die zum Ende des Songs hin rappt oder mit
ihrer Stimme den Gesang des Hamburger Laienchors mit einer Prise Gospel
oder Soul würzt. Und sie bringt dann auch mit dem Satz: „Es gibt nur das
Jetzt!“ die Philosophie auf den Punkt, die den Kern des Chorprojekts
ausmacht und nach der alle Protagonisten zu handeln scheinen: Lebe gerade
im Alter so intensiv wie möglich und nutze den Tag: Der Himmel kann warten.
Der Film erzählt auch davon, wie die Chormitglieder während der Pandemie
isoliert in ihren Wohnungen saßen, dazu gibt es eine Montage von ihren
Videoselfies. Ein Chormitglied starb im Laufe der Dreharbeiten. Darauf
folgt ein Kapitel, in dem die Protagonisten von ihrem Verhältnis zum Tod
sprechen. Aber auch hier wird der Film nicht morbide oder sentimental, denn
so wie die sechs in der Arbeit mit dem Chor ihre eigene Singstimme gefunden
haben, so können sie auch vor der Kamera mit einer abgeklärten Gelassenheit
darüber sprechen, wie sie damit umgehen, dass sie den letzten Abschnitt
ihres Lebens erreicht haben. Das Chorprojekt ist auch deshalb ein Erfolg,
weil Jan-Christof Scheibe die Arrangements der Songs und die gesungenen
Texte genau auf die Charaktere und musikalischen Fähigkeiten der einzelnen
Chormitglieder zugeschnitten hat. Da brauchen diese dann etwa bei einem
Sprechgesang die Töne gar nicht genau treffen und dass man bei den
Chorpassagen dann doch jede Stimme heraushören kann, macht gerade den Reiz
dieser Vorführungen aus.
Auf der Bühne tragen alle Chormitglieder Kleider und Anzüge in Rot-, Lila-
und Orangetönen, sodass sie immer ein wenig wie die alte Garde der
Bhagwan-Bewegung aussehen. Vor allem vermittelt diese Farbdramaturgie aber
eine positive Grundstimmung, und diese prägt auch den ganzen Film. So haben
die Filmmusiker Nils Kacirek und Jörg Hochapfel für ihn einen jazzigen,
entspannt swingenden Soundtrack eingespielt. Und auch die vom Chor
gesungenen Lieder haben durchgehend eine optimistisch, inspirierende
Botschaft.
21 Oct 2023
## LINKS
[1] https://www.heaven-can-wait-chor.de/
[2] /Spielfilm-DeAD/!5048663
[3] https://www.justjazz.de/project/the-three-ladies-of-blues/
## AUTOREN
Wilfried Hippen
## TAGS
Dokumentarfilm
Chor
Film
Filmfestival
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Inklusion
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