# taz.de -- Konzert für Erdbebenopfer in „Verti Music Hall“: Endlich wiede… | |
> Mit Arif Sağ und Kardeş Türküler spielen Größen der türkischen und | |
> kurdischen Musik in Berlin. Das Konzert belegt, wie politisch ihre | |
> Musiktradition ist. | |
Bild: Musik-Virtuos*innen bei der Arbeit: Die Gruppe Kardeş Türküler bei ein… | |
BERLIN taz | Das türkische Wort „Yuh“ ist deshalb so schön, weil es eine | |
befreiende Wirkung auf denjenigen hat, der es spricht. Die Bedeutung auf | |
Deutsch liegt irgendwo zwischen „pfui“, „schäm' dich“ und „weg mit d… | |
und all das haben einige der größten Musiker*innen aus der Türkei am | |
Freitag in Berlin der Regierung des Landes und namentlich dem Präsidenten | |
entgegengeschleudert. Es war ein Konzertprogramm, bei dem sich einige | |
verwundert die Augen gerieben haben dürften, als sie es sahen. | |
Es sind die Größen der türkischen und kurdischen Musik, die am Freitagabend | |
in Berlin spielen. Jeder von ihnen könnte bequem ein mehrstündiges Konzert | |
alleine bestreiten: Darunter Bağlama-Großmeister Arif Sağ, der mit seinen | |
78 Jahren und nach längerer Krankheit im Quintett unter anderem mit Cengiz | |
Özkan und Yılmaz Çelik auftritt. Aber auch die kurdische Sängerin Aynur | |
Doğan und die Virtuos*innen von Kardeş Türküler [1][sind auf Einladung | |
der Alevitischen Gemeinde in Berlin gekommen.] Die 4.500 Plätze in der | |
„Verti Music Hall“ sind ausverkauft. | |
Die Bandmitglieder haben sich aus den Trümmern befreien können, [2][ruft | |
Barış Atay in den riesigen Konzertsaal.] „Unsere Gruppe kommt aus Antakya.�… | |
Anfang Februar hat das Erdbeben die Stadt im Süden der Türkei verwüstet. Am | |
Freitagabend steht auch Atay mit fünf anderen Musikern seiner neuen | |
Folkrock-Band „Mengene“ in Berlin auf der Bühne. Viele Menschen in der | |
Halle kennen Atay aber auch aus einem anderen Zusammenhang: Der Mann sitzt | |
für die Türkische Arbeiterpartei in der Nationalversammlung des Landes. | |
Zu ihrem ersten Song klatscht der gesamte Saal im Takt. Das Stück „Yuh, | |
Yuh“ des Dichters Mahzuni Şerif (1940-2002) wirft den „Stehlenden, denen | |
die das Land berauben und weglaufen“, ein beherztes „Yuh“ entgegen. Weil | |
die Ungerechtigkeiten in der Türkei tief verwurzelt und himmelschreiend | |
sind, wurde das Lied schon vielfach vertont, darunter auch von Selda Bağcan | |
und Ibrahim Tatlıses. Die Gruppe „Mengene“ liefern ihre eigene Version des | |
Stücks – ohne das auch als Saz bekannte Seiteninstrument Bağlama und ohne | |
das für deutsche Hörgewohnheiten komplizierte Taktmaß, das die türkische | |
Volksmusik auszeichnet. Dafür mit prominentem Schlagzeug und kreischendem | |
E-Gitarren-Solo, das den Saal ausfüllt. | |
## Politische Musiktradition | |
Es ist klar, wem das „Yuh“ hier gilt, Sänger Barış Atay wird aber trotzd… | |
nochmal deutlich: „Nach dem Erdbeben haben wir das erste Mal den Staat | |
gebraucht, und er war nicht da.“ Fast zwei Monate nach der Naturkatastrophe | |
mit etwa 52.000 Toten leben in der Türkei tausende Menschen in Zelten | |
[3][und werfen der Regierung ein desaströses Nothilfe-Management vor]. | |
Menschenleben hätten gerettet werden können, wäre die Hilfe in der | |
Erdbebenregion schneller eingetroffen, sagen Kritiker*innen. Viel Leid wäre | |
den Menschen erspart geblieben, wäre in der Region erdbebensicher gebaut | |
worden. | |
Es ist ein politischer Musik-Abend in Berlin. Die Redebeiträge sind auf | |
Türkisch, einige wenige Worte auf Kurdisch. Hier geht es einerseits darum, | |
nach dem Erdbeben die Menschen zusammenzubringen und musikalisch | |
aufzubauen. Andererseits wird mobilisiert: Für die Wahlen am 14. Mai und | |
den oppositionellen Politiker Kemal Kılıçdaroğlu, dem ernsthafte Chancen | |
zugerechnet werden, der neue Präsident der Türkei zu werden. | |
Gegen die Mächtigen und gesellschaftliche Ungleichheit aufzubegehren ist in | |
das Wesen der türkischen Volksmusik übergegangen. Die politischen Reden | |
wirken nicht aufgesetzt, sondern bilden einen fast natürlichen Rahmen um | |
die Musik des Abends. Nicht zufällig saß auch Sänger und Liedermacher Arif | |
Sağ mehr als zehn Jahre für die sozialdemokratische Partei SHP in der | |
türkischen Nationalversammlung. | |
Der Saal quittiert den Auftritt von Arif Sağ am Freitagabend mit stehendem | |
Applaus. Sağ ist einer der letzten noch lebenden Vertreter der älteren | |
Musiker-Generation in der Türkei. Er hat einen entscheidenden Beitrag zur | |
Popularisierung der Bağlama geleistet. Durch ihn ist das alevitische | |
Volksinstrument auch in die intellektuellen Kreise Istanbuls eingezogen. | |
Sağ spielt an diesem Abend fünf Stücke mit seinem Sohn Tolga und den | |
Künstlern Muharrem Temiz, Yilmaz Çelik und Cengiz Özkan. Das Quintett aus | |
vier Bağlamas und einer Cura genannten kleineren Laute wirkt fast | |
transzendental – wer sich darauf im Saal nicht einlassen kann, schweift ab. | |
Es sind die Reden, die den Rahmen und die Struktur des Abends ausmachen. | |
Hüseyin Mat, Vorsitzender der Alevitischen Gemeinde in Deutschland, hält | |
eine flammende Ansprache: Die türkische Regierung habe es immer noch nicht | |
geschafft, vom Erdbeben betroffene Gebiete unter Kontrolle zu bekommen. Es | |
sei eine große Hürde, die privaten Hilfen der alevitischen Gemeinden an der | |
Regierung vorbei zu den Betroffenen zu bekommen. | |
Die Alevitische Gemeinde Berlin möchte die Konzert-Einnahmen in die | |
Erdbeben-Region spenden. Barış Atay bekommt großen Applaus für diesen Satz: | |
„In 45 Tagen werden wir noch einmal ‚yuh‘ rufen und die Regierung | |
wegschicken.“ Dann wählt die Türkei nämlich den neuen Präsidenten. Und der | |
Saal ist davon überzeugt: Dieses Datum wird das Ende von Recep Tayyıp | |
Erdoğans Amtszeit markieren. | |
1 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Cem-Odos Güler | |
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Nancy Faeser | |
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