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# taz.de -- Türkei und Syrien: Das Erdbeben traf nicht alle gleich
> Die Mittel- und Oberschicht hat das Katastrophengebiet in der Türkei
> verlassen. Zurück bleiben die Mittellosen, darunter die Geflüchteten aus
> Syrien.
Bild: Aus Syrien geflüchtet, dann vom Beben heimgesucht: Fatma und Maher in de…
Antakya/Kahramanmaraş taz | Es riecht nach Zementstaub, dem typischen
Geruch städtischer Zerstörung wie im Krieg oder eben nach einem Erdbeben.
Ein Dutzend Bagger versucht in der Schuttwüste in der türkischen Stadt
Antakya Ordnung zu schaffen, zwischen Beton, Stahl und persönlichen
Erinnerungen vieler Menschen. Jemand hat eine zerbrochene Vitrine an den
Straßenrand gestellt, darauf einzelne Fotos und ganze Alben – für den Fall,
dass die Besitzer noch einmal vorbeikommen, wenn sie denn noch leben.
Manchmal zieht noch Leichengeruch über das Zeltlager in der Innenstadt
Antakyas, jener Stadt mit einst über 300.000 Einwohner*innen, von der
praktisch nichts mehr übrig ist. Es besteht aus rund vierzig Zelten, die
vom türkischen Katastrophenschutz Afad aufgebaut wurden. Dutzende Familien
warten apathisch vor ihren Zelten auf das, was dieser Tag bringen mag. Sie
haben überlebt, auch wenn sie das oft nicht als Privileg betrachten.
Hier leben jene, die kein Geld haben, das Erdbebengebiet zu verlassen,
Türkinnen und Türken und viele Flüchtlingsfamilien aus dem [1][Nachbarland
Syrien]. Die Mittelklasse und die Oberschicht haben der Schuttwüste längst
den Rücken gekehrt. Für die geschätzten 1,7 Millionen syrischen
Flüchtlinge, die im türkischen Erdbebengebiet leben, ist die Lage besonders
prekär. Meist haben sie nur einen temporären Schutzstatus, der ihnen
normalerweise nicht erlaubt, ihre jeweilige Provinz zu verlassen.
Zwar hat die Regierung das Reiseverbot temporär aufgehoben – aber zunächst
nur für 60 Tage. Die Direktive sorgt unter den Syrer*innen für
Unsicherheit, abgesehen davon, dass die meisten gar kein Geld haben,
kurzzeitig woanders unterzukommen. Viele Flüchtlinge fürchten auch, dass
die türkischen Behörden das Erdbeben als Vorwand nutzt, sie nach Syrien
zurückzuschicken.
## Die Todesurkunde in der Tasche
Es habe auch einen Vorteil, im Zelt zu leben, versucht die Syrerin Amara
Haskira gute Miene zum bösen Spiel zu machen. [2][Als die Erde zwei Wochen
nach der Katastrophe vom 6. Februar erneut bebte], hatte sie keine Angst,
weil sie nur ein Zeltdach über dem Kopf hatte.
Doch die Reaktion ihrer Kinder zeigten, wie tief die seelischen Wunden
sind. „Als es wieder losging, wollten die Kinder aus dem Zelt laufen. Ich
habe sie an mich gedrückt wie eine Taube, die ihre Flügel über ihre Kinder
legt. Die Kinder riefen: ‚Mama, die Erde wird unter uns aufreißen‘“,
beschreibt Amara den Moment. Sie deutet auf ihren vielleicht sechsjährigen
Sohn: „Schau, wie klein er ist, er schrie, er wolle endlich sterben. Was
hat er erlebt, wenn ein Sechsjähriger sterben will? Meine Kinder haben in
Syrien nur Krieg erfahren und jetzt das“, sagt Amara.
Neben ihr steht ein Mann, der sich als Firas Abu Jussuf vorstellt. Sein Arm
ist in Gips geschient, die Schulter auf der anderen Seite in einer
Schlaufe. Er wurde vor zwei Wochen aus den Trümmern seines Hauses geborgen.
Firas zieht die Todesurkunde seiner achtjährigen Tochter aus der Tasche,
ein leicht zerknülltes Papier, weil es so oft auf- und wieder
zusammengefaltet wurde. Als Mitte Februar erneut die Erde bebte, dachte er
nur: „Gott, bitte lass sie keine weitere Todesurkunde eines meiner Kinder
ausstellen.“
## „Wir sind wie Streuner“
Gut drei Autostunden von Antakya entfernt liegt die Stadt Kahramanmaraş,
unweit des Epizentrums des ersten Bebens. Die Syrerin Fatma Talib ist auf
dem Weg zur Moschee – einem der wenigen Gebäude, die noch intakt sind –,
nicht um zu beten, sondern um im Vorhof zwei Plastikflaschen mit Wasser zu
füllen. Fatmas neues Zuhause ist ein einsames Zelt mitten in einer
Landschaft der Zerstörung, das ihr Freunde beschafft haben. Anders als die
Menschen im Zeltlager von Antakya sind Fatma, ihr Mann und ihre fünf Kinder
auf sich allein gestellt. Vielleicht, weil sie nicht wissen, wo sie sich
Hilfe holen können, oder einfach, weil sie hier noch niemand abgeholt hat.
Fatmas Mann, Maher al-Schighri, hat vor dem Beben als Müllsammler
gearbeitet und das, was andere wegwerfen, nach verkaufbarem Material
durchsucht. „Die zwei größeren Kinder waren in der Schule“, betont er
stolz. Die Reichen, die seien jetzt weg, geblieben seien nur die Armen. „In
einem Leben im Zelt gibt es keine Würde. Wir leben auf der Straße, wir sind
wie Streuner. Aber je stärker dein Glaube ist, umso mehr testet dich Gott“,
sagt er, wohl auch, um sich selbst zu überzeugen.
Wie alle syrischen Flüchtlinge in der Türkei haben Fatma und Maher eine
Odyssee hinter sich. Sie kommen ursprünglich aus der syrischen Hafenstadt
Latakia. Während des Syrienkriegs wurden sie bereits dreimal innerhalb des
Landes vertrieben. Dann kamen sie vier Jahre lang in einem Zeltlager in der
türkischen Stadt Şanlıurfa unter. Dort gaben ihnen die Behörden vor neun
Monaten umgerechnet ein paar Hundert Euro und baten sie, das Lager zu
verlassen. Mit dem Geld mieteten sie sich in Kahramanmaraş eine Wohnung.
„Alles lief gut, wir dachten, wir beginnen endlich unser neues Leben, und
jetzt das. Wir haben keine Zukunft. Selbst die Schule der Kinder ist
zerstört“, sagt Fatma. Ihr Mann fasst die Misere zusammen: „Nicht nur meine
Frau und ich, auch meine Kinder sind praktisch tot. Es ist aus.“ Brutaler
kann man gefühlte Perspektivlosigkeit kaum ausdrücken.
## Goldschmuck unter Trümmern
Ähnlich geht es Mustafa al-Scheich. Der Syrer wandert über einen
Schutthaufen, der vom einstigen Leben seiner Familie übrigblieb. „Hier sind
meine Mutter und mein Bruder gestorben, dort mein anderer Bruder, meine
Schwägerin. Das war ihr Schlafzimmer.“ Von Betontrümmern und verbogenen
Stahlträgern abgesehen ist nichts mehr zu erkennen. „Hier war das
Kinderzimmer meiner Neffen und Nichten“, deutet er auf die andere Seite,
„diese beiden konnten wir dort ausgraben.“ Ein vielleicht zwölfjähriger
Junge, der neben ihm steht, nickt. Der andere, vielleicht Anfang 20, sitzt
auf einem Betonblock, starrt auf sein einstiges Zuhause und sagt nichts.
15 Familienmitglieder hat Mustafa verloren, fünf konnten lebend geborgen
werden. Er zieht sein Handy aus der Tasche und zeigt ein Video. Er und der
etwa 20-jährige Neffe graben nur mit Schaufeln bewaffnet in den Trümmern.
Vier Tage und vier Nächte haben sie das getan. Zwischendurch hätten sie
zwischen den Betonblöcken mal ein, zwei Stunden geschlafen.
Seit die Familie ausgegraben ist, hat Mustafa ein anderes Problem: Unter
dem Schutt liegt noch das Ersparte, vor allem der Goldschmuck seiner
Mutter. Wegen der hohen Inflation in der Türkei haben viele ihr Erspartes
in Gold angelegt oder in US-Dollar, die sie sicherheitshalber zu Hause
aufbewahrt hatten – Erspartes, das die Menschen jetzt dringend brauchen, um
sich ein neues Leben aufzubauen.
Aber um Plünderungen auszuschließen, darf niemand ohne Einverständnis der
Polizei buddeln. „Hier unten liegen unsere Wertgegenstände“, sagt Mustafa.
„Aber wir können sie nur mit dem Einverständnis der Stadtverwaltung holen,
nachdem wir bewiesen haben, dass das unser Haus ist. Der Mann vom
Zivilschutz sagte, dafür muss ich mindestens zwei Wochen warten.“ Wenn die
Bagger vorher kommen, um den Schutt wegzuräumen, müssen alle
Wertgegenstände bei der Polizei abgegeben werden, mit genauer Angabe des
Fundorts. „Wie soll ich dann beweisen, dass das Gold oder Geld mir
gehört?“, fragt Mustafa, „ich habe noch nicht einmal einen Ausweis.“ Den
wiederzubekommen, ist allerdings möglich. Die türkischen Behörden
registrieren die Fingerabdrücke ihrer Bürger und auch der syrischen
Flüchtlinge.
Mustafa hält inne und zeigt auf seinem Handy eine Diashow seiner Familie,
die er auf Tiktok gespeichert hat. Unterlegt mit Koranrezitationen, wird
ein Porträt nach dem anderen abgespielt. Es sind so viele Gefühle auf
einmal. Trauer um die fünfzehn toten Familienmitglieder, der Versuch, die
materiellen Dinge zu retten, Erinnerungen im Haus. Wie geht es jetzt
weiter? „Könntest du“, stellt er eine Gegenfrage, „in so einer Situation
irgendeinen klaren Gedanken über deine Zukunft fassen?“
1 Mar 2023
## LINKS
[1] /Wissenschaftler-ueber-Hilfe-nach-Erdbeben/!5912240
[2] /Neue-Erdbeben-im-Katastrophengebiet/!5917639
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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