# taz.de -- Berliner helfen Erdbebenopfern: „Der Hilfsstrom ist wie ein Sieb�… | |
> Kommen die Hilfsgüter aus Berlin im türkischen Erdbebengebiet zielgenau | |
> an? Die Grünen-Abgeordnete Tuba Bozkurt ist dieser Frage nachgegangen. | |
Bild: Helfer packen in Deutschland einen Lastwagen mit Hilfsgütern für die Er… | |
taz: Frau Bozkurt, Sie waren sechs Tage im Erdbebengebiet in der Türkei und | |
sind am vergangenen Mittwoch zurückgekommen. Was für ein Bild hat sich | |
Ihnen am meisten eingeprägt? | |
Tuba Bozkurt: Das Bild einer großen Zerstörung, Verzweiflung und | |
Perspektivlosigkeit. Asche und Staub, den man einatmet. Die eingefallenen | |
Schultern der Menschen. Das geht mir nicht mehr aus dem Kopf. | |
Sie waren in der schwer getroffenen Region Malataya. Wie groß sind die | |
Zerstörungen dort? | |
Die Türkei ist in Provinzen aufgeteilt, Malataya ist eine der großen | |
Provinzen, man spricht dann von Büyükşehir, also Großstadt. In der Stadt | |
sind hauptsächlich zentrumsnahe Stadtteile betroffen. Die Untergebiete | |
einer Büyükşehir sind Distrikte; von denen sind vor allem Akçadağ und | |
Doğanşehir und ihre Dörfer betroffen. Viele Dörfer sind noch immer nicht | |
gut erschlossen. | |
Was bedeutet das? | |
Sie sind nach dem Beben schlechter erreichbar. Die Hilfen kommen dort | |
deutlich weniger an. Man muss sich den Hilfsstrom wie ein Sieb vorstellen. | |
Er beginnt im Stadtzentrum, und bis er entlegene Dörfer erreicht, ist er | |
längst erschöpft. Deshalb konnten im Zentrum mittlerweile wieder Geschäfte | |
öffnen. In den Dörfern gibt es entweder keine Geschäfte oder sie können | |
nicht mehr aufmachen, weil sie zerstört sind. Ich habe bewusst Dörfer | |
aufgesucht und Hilfspakete übergeben, die wir dorthin transportiert haben. | |
Wir waren in vier Dörfern. | |
Sind die Häuser noch bewohnbar? | |
Ich habe nur ein Haus gesehen, das noch bewohnt war. Es war das Haus des | |
Dorfvorstehers, es war neu gebaut und kurz vor dem Erdbeben fertig | |
geworden. Vielleicht auch mit stabileren Materialien, Dorfvorsteher sind | |
finanziell möglicherweise etwas besser gestellt. Von den anderen Häusern | |
stehen zwar einige noch, an der Fassade ist außer ein paar Abbruchstellen | |
auch ist nicht viel zu erkennen, aber innen drin gibt es überall Risse und | |
Bruchstellen. Auch das Hotel in dem ich übernachtet habe, hatte in der | |
Decke einen Riss. Insgesamt haben im Gesamtgebiet Malatya nur noch zwei | |
Hotels auf. | |
Das Erdbeben ist jetzt zwei Monate her. Was hat Sie zu der Reise bewogen? | |
Ich wollte mir ein eigenes Bild machen. Wir haben sehr viele Hilfen von | |
hier aus geleistet. In Berlin gibt es immer noch eine wahnsinnige Welle der | |
Solidarität und Anteilnahme. Nach wie vor bringen LKWs Sachspenden von | |
Berlin in die betroffenen Regionen. Aber wir wissen eigentlich nicht, ob | |
das wirklich so zielgenau ankommt. Und ob das, was wir schicken, richtig | |
ist und die Bedarfe deckt. Zudem wird das wird das Ganze auch wahnsinnig | |
politisiert. | |
Von wem? | |
Von allen möglichen Menschen, die dort in der Region leben, oder Leuten von | |
außerhalb, die einen Bezug zu der Region haben. Die einen sehen politische | |
Defizite als Grund für die großen Zerstörungen, andere wehren sich dagegen. | |
Die Region ist sehr vielfältig, es gibt unglaublich viele Minderheiten, | |
auch unter den Betroffenen. Aus der Ferne ist ihre Situation kaum zu | |
beurteilen. Ich wollte das selbst sehen und auch schauen, ob wir noch mehr | |
machen können. | |
Was ist Ihr Fazit? | |
Die Sachspenden werden von der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD | |
entgegengenommen. Weil die aber nicht als Hilfsorganisation fungiert, | |
verteilt sie die Sachspenden nicht, alles wird in ein Depot gebracht. Für | |
die Verteilung braucht es vor Ort Vereine, die diese Aufgabe übernehmen, | |
oder die Betroffenen müssen es dort selbst abholen. Daher ist es wichtig, | |
die Aktionen, die wir aus Deutschland organisieren, mit Akteur:innen vor | |
Ort zu koordinieren. | |
Das heißt, die vielen Spenden, auch aus Berlin, erreichen die Betroffenen | |
nicht unbedingt? | |
Menschen, die in der Nähe dieser Depots untergekommen sind, profitieren | |
sicherlich. Das ist ja nicht schlecht. Die Dörfer befinden sich in den | |
Bergen, die Betroffenen dort müssten runter in die Stadt fahren um sich mit | |
den Sachspenden eindecken zu können. Die Geldspenden kommen in den Dörfern | |
besser an. | |
Woran mangelt es am meisten? | |
Wasser ist das allergrößte Problem. Das Wasser ist immer noch verunreinigt. | |
Ich war ja auch in der Provinz Hatay und in weiteren Distrikten. Auch dort | |
gibt es kein reines Wasser. Alle müssen abgefülltes Flaschenwasser trinken, | |
das kostet auf Dauer viel Geld. Gerade für kranke Menschen ist die | |
Situation sehr schwierig. | |
Inwiefern? | |
Ich habe einen Mann getroffen, der nierenkrank war und an der Dialyse hing. | |
Er läuft Gefahr, sich eine Infektion einzuhandeln, wenn er verunreinigtes | |
Wasser trinkt. Er hatte schon drei Infektionen seit dem Erdbeben. Dadurch, | |
dass Ramadan ist, wird überall auf der Straße warmes Essen angeboten, von | |
Privatpersonen oder Regierungsorganisationen. Jeden Tag gibt es | |
verschiedene Suppenküchen. Aber Menschen, die krank sind, trauen sich | |
nicht, das zu essen, weil sie sich nicht sicher sein können, dass wirklich | |
sauberes Wasser verwendet wurde. | |
Was fehlt noch? | |
Bis vor Kurzem war es noch sehr kalt, da brauchte man Heizstrahler, Decken | |
und Schlafsäcke. Tagsüber wird es allmählich ein bisschen wärmer, aber | |
nachts könnte man ohne Heizkörper kaum überleben. | |
Was folgt jetzt aus Ihrer Reise? | |
Als ich unterwegs war, habe ich versucht, ein neues Depot zu organisieren. | |
Wir wollen dort demnächst einen Lkw mit Sachgütern hinschicken. Meine | |
Familie wohnt auch in der Region und gehört zu den Betroffenen. [1][Die | |
Solidarität untereinander ist wahnsinnig stark]. Diejenigen, die ein | |
bisschen mehr haben, sind sofort bereit, die anderen zu unterstützen. So | |
haben sich mein Onkel und Cousins meines Vaters bereit erklärt, die | |
ankommenden Spenden zu verteilen. Mein Vater ist auch gerade aus | |
Deutschland in die Region gefahren. | |
Sie haben zwölf Angehörige verloren, ist das richtig? | |
Genau. Eigentlich sind alle meine Verwandten betroffen. | |
[2][In der Türkei ist gerade Präsidentschaftswahlkampf], am 14. Mai wird | |
gewählt. Macht sich das im Erdbebengebiet bemerkbar? | |
Ganz eindeutig. Überall gibt es Wahl-Werbetafeln. Die Parteien sind bei den | |
Hilfeleistungen vor Ort präsenter, auch Regierungsvertreter zeigen sich. | |
Wie kommt das bei den Betroffenen an? | |
Durchwachsen. Ich bin ja oft in der Region. Mein Eindruck ist: Das Erdbeben | |
hat nicht dazu geführt, dass das eine Lager mehr Zuspruch hat als das | |
andere. | |
Das Erdoğan-Lager und die Opposition? | |
Ja. Mein Eindruck ist, dass sich die Fronten weiter verhärtet haben, die | |
Polarisierung noch stärker geworden ist. Erdoğan-Anhänger sagen, die | |
Regierung könne nichts für das Erdbeben. Die anderen sagen, die Regierung | |
habe versagt. Was das Ausmaß der Zerstörungen angeht, ist die Regierung | |
tatsächlich überfordert. | |
Innerhalb der deutschen Bevölkerung ist das Erdbeben kaum noch präsent oder | |
täuscht das? | |
Bei der deutschsprachigen Gesellschaft scheint das so zu sein, aber i[3][n | |
der türkischen Community ist es sehr, sehr präsent], immer noch. | |
Wie drückt sich das aus? | |
Es gibt weiterhin sehr viele Spenden, Lkws fahren nach wie vor von hier aus | |
in die Regionen. Ich hatte eben vom Ramadan gesprochen. Im Ramadan gibt es | |
die Verpflichtung, eine Art Spende, Fitre genannt, zu machen. Das ist eine | |
Armenabgabe. Das machen viele türkischstämmige Berliner. Ich war mit zwei | |
Freundinnen vor Ort. Wir hatten von unseren Familien und Freunden Fitre | |
mitbekommen, die haben wir an Erdbebenopfer verteilt. | |
15 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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