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# taz.de -- Jürgen Trittin über den Atomausstieg: „Das ist ein großer Erfo…
> Jürgen Trittin kämpfte als Hausbesetzer und später als Umweltminister
> gegen die Kernkraft. Das Ende der letzten drei AKWs will er mit Freunden
> feiern.
Bild: Jürgen Trittin als Bundesumweltminister 1999 zu Besuch in Gorleben
wochentaz: Herr Trittin, am 15. April gehen die letzten deutschen
Atomkraftwerke vom Netz. Wie feiern Sie?
Jürgen Trittin: Ich sitze erst mit ein paar Freunden zusammen. Später gehe
ich zum Brandenburger Tor. Dort plant Greenpeace für Mitternacht eine
Aktion.
Mit Countdown wie an Silvester?
Greenpeace zündet wohl kaum Böller.
Wären nicht der Ukrainekrieg und die Energiekrise dazwischengekommen,
würden die Grünen vermutlich ausgelassen feiern.
Das weiß ich nicht. Ich habe den Eindruck, dass die Emphase aus dem Thema
raus ist, seit 2011 der Konsens zum Atomausstieg wieder erkämpft wurde.
Manchen meiner Freunde im Wendland fehlte seitdem richtig was, weil die
jährlichen Demonstrationen nicht mehr stattfanden. Die Aufregung ist
seitdem auf jeden Fall raus. An diesem Samstag endet ein vergleichsweise
rationaler Prozess, und deswegen fällt die Begeisterung über das Erreichte
nicht so aus, wie man sich das vielleicht vor 30 Jahren vorgestellt hat.
Das schmälert nicht das Ergebnis: Der Atomausstieg ist richtig, und dass er
nun vollzogen wird, ist ein großer Erfolg, für den gerade wir Grünen lange
und mit viel Einsatz gekämpft haben.
Wie lange reicht dieser Kampf für Sie persönlich zurück?
Mitte der 1970er wurde [1][der AKW-Bauplatz im badischen Wyhl] auch von
Leuten besetzt, denen wir das zunächst gar nicht zugetraut hätten. Ich war
20 Jahre alt und zu diesem Zeitpunkt Hausbesetzer. Solche Aktionen waren
damals eigentlich ein Privileg für linksradikale Studierende. Dass
konservative Landwirte mit so was anfangen, konnte ich mir damals kaum
vorstellen. Dann gab es die große Treckerdemonstration der
Gorleben-Bauern vom Wendland nach Hannover. Das war für mich ein
Mitauslöser. Aus diesem Treck und der Bewegung heraus ist später auch ein
wesentlicher Teil der Grünen entstanden.
Gäbe es die Partei heute überhaupt ohne dieses Thema?
Der Kampf gegen die Atomkraft war konstituierend für die Partei. Er brachte
Kräfte aus sehr unterschiedlichen Ecken zusammen, vom CDU-Abgeordneten
Herbert Gruhl über FDPler und SPD-Mitglieder bis zu Linksradikalen wie mir.
Damit die alle zusammenkommen konnten, war eine Frage nötig, in der sie
sich einig waren – und das war die Ablehnung der Atomenergie.
Und wie wichtig war die Parteigründung für die Bewegung? In diesem Schritt
steckte ja gewissermaßen schon eine Abkehr vom zivilen Ungehorsam und der
Militanz der Anfangsjahre.
Die Korrektur politischer Strategien zieht sich durch die Geschichte des
Atomausstiegs. Man hat zuerst versucht, durch die Besetzung von Bauplätzen
den Neubau zu verhindern. Diese Strategie ist zwar nicht komplett
gescheitert. Es gab Planungsstopps. Aber die Nutzung der Atomenergie an
sich wurde nicht beendet. Deswegen wollten wir Grünen diesen Protest in die
Parlamente tragen. Später haben wir versucht, in den Bundesländern, in
denen wir regiert haben, über eine sehr konsequente Auslegung der
Sicherheitsstandards die Anlagen stillzulegen. Das ist gescheitert, weil
sie zu diesem Zeitpunkt so rentabel waren, dass sich die Betreiber jede
Nachrüstung leisten konnten. Schließlich haben wir zuerst in Niedersachsen
und später auf Bundesebene den Weg eingeschlagen, die Atomenergie im
Konsens mit der Industrie zu beenden. Das ist von vielen in der Bewegung
erst mal kritisch gesehen worden, hat sich aber im Ergebnis als richtig
erwiesen.
Anders als die Atomkraft war der Klimawandel für die Grünen und die
Bewegung zu Beginn kein großes Thema. Warum nicht?
Der Klimawandel war damals ein ziemlich neues Thema, hat aber ab Mitte der
1990er Jahre eine immer größere Rolle gespielt. Deswegen sind wir 2001
nicht einfach nur aus der Atomenergie aus-, sondern gleichzeitig in die
Erneuerbaren eingestiegen. Umgekehrt wäre es ohne den Druck des
Atomausstiegs gar nicht möglich gewesen, in den Hochzeiten 20 Milliarden
Euro pro Jahr in die Erneuerbaren zu investieren und sie damit für den Rest
der Welt erst wettbewerbsfähig zu machen. Insofern gibt es einen
Zusammenhang zwischen beiden Themen.
Schön und gut, aber den Klimawandel hätte man schon in den 1980ern als
Problem erfassen können.
Wenn ich daran erinnern darf: Als Grüne waren wir damals nicht an der
Regierung. Aussagen zur Reduktion der CO2-Bilanz finden Sie aber schon in
unseren Wahlprogrammen der frühen 1990er. Ich bezweifle jedoch, dass wir
vor 25 Jahren Mehrheiten für den Kohleausstieg wie heute gefunden hätten.
Wie mühsam war es, den Atomausstieg in der rot-grünen Koalition
durchzusetzen?
Rot und Grün waren der irrigen Auffassung, sie wollten das Gleiche. An der
Regierung hat sich dann herausgestellt, dass das nicht immer bei jedem
Thema stimmte – da gibt es manchmal eine Parallele zu heute. Auf Druck der
Industrie hat Gerhard Schröder gebremst. Wir mussten die vorgesehene
Gesetzesnovelle zum Atomausstieg verschieben, ähnlich wie heute beim
Gebäudeenergiegesetz zu den Heizungen. Am Ende haben wir sie aber
umgesetzt.
Was können die Grünen daraus denn für die heutigen Konflikte in der Ampel
lernen?
Dass in einer solchen Regierungskonstellation nicht immer die Frage von
links und rechts entscheidend ist, sondern der Konflikt zwischen
Strukturkonservatismus und Veränderung. Die Erfahrung dieses Konfliktes
zieht sich durch alle grünen Regierungsbeteiligungen, und deshalb können
wir, das ist ebenfalls eine Erfahrung, unsere Ziele nur mit Beharrlichkeit,
klugen Kompromissen und manchmal auch über Umwege erreichen.
Und wo sehen Sie Unterschiede zu damals?
Robert Habeck steht heute vor einem größeren Problem. Wir mussten damals
ein paar Großkonzerne und die darin organisierten Arbeitnehmer überzeugen.
Wenn man aber die Mobilität und die Wärmebereitstellung dekarbonisieren
will, dann [2][trifft das jeden Einzelnen bei der eigenen Heizung] und dem
eigenen Auto. Das ist eine Veränderung, die die Menschen viel stärker
spüren und die von den strukturkonservativen Kräften in diesem Lande extrem
gut verhetzbar ist. Deswegen habe ich großen Respekt vor Roberts Arbeit.
Robert Habeck ist großer Kritik aus der Klimabewegung ausgesetzt, der alles
zu langsam geht – vergleichbar mit den damaligen Vorwürfen der
Anti-AKW-Bewegung gegen Sie als Umweltminister.
Das Verhältnis zwischen meiner Person und Leuten im Wendland oder bei
Greenpeace ist heute viel entspannter als damals. Auf beiden Seiten haben
wir gelernt, dass wir nicht ohneeinander können. Ohne den Druck aus den
Bewegungen hätten wir die Gesetzlichkeit nicht durchsetzen können, und ohne
uns an der Regierung hätte die Bewegung diese Gesetzlichkeit nicht
gekriegt. Insofern muss man mit diesem Spannungsverhältnis leben. Und
genauso wie Robert zurzeit von manchen der Letzten Generation oder anderen
angefeindet wird, bin ich ziemlich sicher, dass sie in zehn Jahren
miteinander schön gemütlich Kaffee trinken. Auch wenn es natürlich einen
großen Unterschied gibt: Beim Atomausstieg konnten wir einen langen Ball
spielen. In der Klimakrise drängt die Zeit.
Letzten Herbst schien der Atomausstieg zu wackeln. Robert Habeck war in der
Energiekrise offen für eine Laufzeitverlängerung, Sie und andere in der
Grünen-Fraktion waren dagegen. Wie tief ging der Riss?
In der Regierung wollte man sich nicht dem Vorwurf aussetzen lassen, dass
im Winter irgendwas schiefgehen könnte. Daher gab es aus dem
Wirtschaftsministerium die Überlegung, eine Laufzeitverlängerung zu machen.
Ich und die meisten in der Fraktion haben die Diskussion nicht verstanden.
Wir haben uns sehr beharrlich und störrisch dagegengestellt. Am Ende stand
dann das [3][Machtwort des Kanzlers], über dessen Zustandekommen ich hier
nicht philosophieren will, und man hat symbolisch, um Versorgungssicherheit
zu simulieren, die Dinger drei Monate länger laufen lassen.
Im Bundestag haben Sie mit sieben Fraktionskolleg*innen gegen die
Kurzzeitverlängerung gestimmt.
Die Fraktion hat das mit heimlicher Freude gesehen, weil damit dem Kanzler
signalisiert wurde: Jetzt ist wirklich Schluss mit lustig; die drei Monate
kriegste noch, aber mehr ist nicht drin. Das war die Funktion dieser Neins.
Die Gegenseite kann nun stets behaupten: So wichtig ist den Grünen der
Klimaschutz also doch nicht.
Ein absurder Gedanke. In Frankreich kann man sehen, wohin es führt, wenn
man überalterte Atomanlagen zu lange am Netz lässt. [4][Die Dinger können
nicht mehr richtig gekühlt werden] und haben Risse in den Druckbehältern.
Im Ergebnis musste Deutschland im letzten Jahr so viel Strom nach
Frankreich exportierten wie nie zuvor, darunter auch Kohlestrom.
Klimaschutz durch Atomenergie? Das überzeugt mich nach der Erfahrung nicht.
15 Apr 2023
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[4] /Marode-Meiler-sorgen-fuer-hohe-Preise/!5863990
## AUTOREN
Tobias Schulze
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