# taz.de -- Japanischer Anime „Suzume“: Es droht Vernichtung | |
> Der Anime-Film „Suzume“ von Makoto Shinkai findet für individuelle und | |
> kollektive Traumata überbordende Bilder. Und warnt vor einem roten Wurm. | |
Bild: Suzume steht an der Schwelle zu einer anderen Welt | |
Wunderschön ist das Glitzern des Meeres, wenn Suzume auf ihrem Schulweg mit | |
dem Fahrrad von oben, wo sie wohnt, nach unten hinabrollt. Sie ist | |
siebzehn, sie lebt in der japanischen Provinz, in einem Städtchen auf der | |
Insel Kyushu. Als sie vier war, ist ihre Mutter gestorben. Nun lebt sie bei | |
ihrer Tante, Takami, die sie an Tochter statt annahm, alleine erzog und | |
nun, kleines Nebendrama, das mitläuft, wieder eine Partnerschaft sucht. Das | |
ist der Stand der Dinge, bevor alles sich zu überschlagen beginnt. | |
Auf dem Schulweg begegnet Suzume einem jungen und schönen Mann auf der | |
Suche nach einem verlassenen Dorf. Sie weist ihm den Weg, eilt dann hinter | |
ihm her, ins Dorf, wo sich Unheimliches zuträgt: Es öffnet sich nämlich, | |
ganz buchstäblich, das Tor zu einer anderen Welt. | |
Makoto Shinkai beherzigt die Regel, dass man eine Geschichte am besten mit | |
einem Erdbeben anfangen lässt, um dann alles weiter zu steigern. Das gilt | |
aber nur auf den ersten Blick, denn noch im größten Tohuwabohu (und daran | |
fehlt es hier nicht) ist der Anime-Auteur im Herzen ein Lyriker, wenn nicht | |
ein Idylliker, das haben seine ersten, frühen, kurzen Filme gezeigt. | |
Der 45-Minüter „The Garden of Words“ von 2013 ist eine | |
regentropfenverliebte Naturmeditation, in der sich wunderbar wenig | |
ereignet. Und in großformatigen Filmen, die folgten – [1][„Your Name“, d… | |
Riesenhit, der ihm 2016 den Ruf als neuer Großmeister des Anime] | |
eingebracht hat, sowie [2][„Weathering with You“ von 2019] –, war Shinkai | |
immer auch naturmystisch unterwegs. | |
Der Komet, der in „Your Name“ einschlägt, verwüstet eine wunderschöne, | |
traditionsreiche Landschaft, wodurch die Welt an einer eher unauffälligen | |
Stelle aus den Fugen gerät: Ein Mädchen, das beim Einschlag stirbt, lebt im | |
Körpertausch mit einem Jungen aus Tokio weiter, sodass beide nach einer | |
Odyssee, die viele japanische Landschaften zeigt, in einer nicht ganz | |
erklärlichen Zeitfuge alles wieder halbwegs einrenken können. | |
In „Weathering With You“ geht es um eine junge Frau, die die Fähigkeit | |
besitzt, mit geschlossenen Augen das Wetter zu machen, gute Gelegenheit für | |
Shinkai, seiner grandiosen Obsession für animiertes Wasser zu folgen, sei | |
es als spiegelnde, glitzernde Fläche oder sei es als Tropfenkonzert. | |
Und so beginnt in „Suzume“ alles mit dem Glitzern des Wassers, dem Aufbruch | |
des Morgens, dem schulischen Alltag, mit der detailliert und fast | |
hyperrealistisch ausgemalten Schönheit der Natur, ihrem Grünen und Blauen, | |
in dem sich das Esoterische auch später immer wieder erdet, und sei es | |
mithilfe des Wassers, das Oben und Unten verbindet. | |
Verbunden aber sind auch die Stadt und das Land, die Vernichtung träfe | |
beide, und so sehen in Shinkais Filmen die Stadt wie das Land stets | |
hinreißend aus, Verkehr, Hochhäuser, Züge sind eher etwas wie vom Menschen | |
geschaffene zweite Natur. Das eine wie das andere ist durch die Katastrophe | |
gefährdet, und vor allem ist es die Harmonie dieser Verbindung. | |
Die Katastrophe, die als Erdbeben droht, hat eine furchterregende Gestalt: | |
Sie ist ein riesiger roter Wurm aus Strängen und Fäden, ein Sturm, der | |
heraufzieht, sichtbar jedoch nur für Eingeweihte, zu denen von nun an auch | |
Suzume gehört. Der Wurm steigt als eine Art umgekehrter roter Tornado zum | |
Himmel, um ihn Vögel mit großem Geschrei, und erst wenn er herabfällt, | |
bewirkt er als Beben Tod und Vernichtung. | |
Die Bedrohungslagen sind das, was sich im Lauf des Films steigert und | |
steigert. Zunächst öffnen sich die Portale des Schreckens nur an | |
abgelegenen verlassenen Orten, etwa einem stillgelegten Freizeitpark in den | |
Bergen, wo der Wurm aus einer Riesenradkabine hervorbricht. Am Ende jedoch | |
ist Tokio von der Zerstörung bedroht, Millionen Menschen müssten sterben, | |
wenn es nicht beim klirrenden Vorbeben bliebe. | |
Der junge Mann, dem Suzume am Anfang begegnet, heißt Souta, ist | |
Lehramtsstudent, vor allem aber auch, langer Familientradition folgend, ein | |
„Schließer“: Wo sich ein Portal geöffnet hat, eilt er herbei und macht die | |
Tür wieder zu. Leider hat Suzume unabsichtlich gleich zwei Fehler begangen. | |
Sie hat einen Schlussstein entfernt und ist durch das Tor kurz ins Jenseits | |
spaziert, das eine Mischung aus Trauma-Ort und Minecraft-Netherworld ist. | |
Der Schlussstein hat sich rasch in eine süße sprechende Katze verwandelt, | |
die den Schließer kurzerhand in einen dreibeinigen gelben Schemel | |
hineinbannt. Der kann nun seinerseits sprechen und laufen, was die | |
Normalwelt mit oft komischem Effekt in Staunen versetzt. | |
Sprechendes Tier, rennender Schemel, über- beziehungsweise unterirdische | |
Kräfte, die heraufziehende Katastrophe, verbildlicht als riesiger | |
Schurken-Wurm, der auch dem Marvel-Universum entsprungen sein könnte, dazu | |
Suzumes Kindheitstrauma, nämlich der Tod ihrer Mutter, und die | |
dazugehörigen Erinnerungsbilder, die sich beim Gang durchs Portal zeigen: | |
Da kommt eine Menge zusammen, Großes und Kleines, Mythisches und Privates. | |
## Roadmovie, Superhelden-Drama und Buddy-Komödie | |
Der Film purzelt entsprechend auch von einem Genre zum andern und wieder | |
zurück. Roadmovie, das sich quer durch Japan bewegt, hier, | |
Superhelden-Drama da, Buddy-Komödie von Mädchen, Katze und Schemel | |
zwischendurch, Social Media spielen auch ihre Rolle, nicht zu vergessen die | |
Idyllen-Einlagen von grünender Landschaft und verlassenen Orten. | |
Shinkai ist keiner, der Sachen säuberlich unter einen Hut bringt oder | |
zwingt. Das war schon in „Your Name“ der Fall, der auf ähnlich Großes | |
hinauswill und sein zentrales Motiv nie restlos erklärt, und wird in | |
[3][„Suzume“, der dieses Jahr im Berlinale-Wettbewerb lief], geradezu zum | |
Prinzip. So ist der Film vielfach lesbar, ohne dass die Lektüren einander | |
widersprechen. Zum einen erzählt er vom Trauma einer jungen Frau, die ihre | |
Mutter verlor und das Erlebnis nun in einer großen Heldenreise mit kleinen | |
Begleitern bewältigen muss – ein ins Superheldendrama hinausgewucherter | |
Familienroman. | |
Es ist andererseits keine Frage, dass „Suzume“ wie schon „Your Name“ das | |
nationale Trauma Fukushima behandelt (die Erinnerung an Hiroshima und | |
Nagasaki schwingt dabei notwendig mit), als Katastrophe, die jederzeit | |
hereinbrechen kann. | |
Dazu kommt als neues Motiv das demografische Problem der sinkenden | |
Geburtenraten in Japan, als dessen Ausdruck die wachsende Zahl | |
aufgelassener Orte und Dörfer fungiert. Shinkai ist weder Nostalgiker noch | |
Eskapist, der sich die Rückkehr zur Tradition herbeiträumt; dafür setzt er | |
die Großstadt mit viel zu großer Begeisterung als dynamischen Organismus | |
ins Bild. | |
Eher geht es ihm darum, große und kleine Bilder und diverse Genres | |
kreuzende Geschichten für die stete Gefährdung, für das Prekäre der | |
Harmonie von Mensch und Natur zu entwerfen. Es ist nur logisch, dass die | |
Filme zwischen überbordender Fantasie und intimer Idyllik wild schwanken; | |
dass sie Rahmen ziehen und gleich wieder sprengen. | |
Das unterscheidet Shinkai und andere jüngere Anime-Auteure von der | |
Generation Ghibli: Sie unternehmen nicht mehr den Versuch, in ihren Werken | |
einen harmonischen Zusammenhang herzustellen, als ästhetische Gegenkraft zu | |
einer gefährdeten Welt. „Suzume“ ist als Film, bei aller Gekonntheit und | |
Schönheit, selbst zerstückt, ein zerbrochenes Ganzes aus großen und | |
kleinen, glitzernden, wutroten, komischen, animistischen und vielen anderen | |
Scherben. | |
„Suzume“. Regie: Makoto Shinkai. Japan 2022, 121 Min. | |
13 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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