# taz.de -- ChatGPT löst Bildungskrise aus: Hausaufgaben aus der Maschine | |
> Schüler überlassen das Schreiben ganzer Aufsätze einer künstlichen | |
> Intelligenz. Kritiker fürchten, dass der Persönlichkeitsentwicklung | |
> dadurch etwas Zentrales verlorengeht. Stimmt das? | |
Die ersten Videos liefen zum Jahreswechsel auf Sihams Smartphone ein. Von | |
da an folgte ein Tiktok-Kurzclip auf den nächsten, neben Kosmetik-, Tanz- | |
und Tiervideos immer wieder ChatGPT, die geniale Erfindung. „Ständig | |
erzählte irgendjemand, wie einfach man damit Hausaufgaben machen kann und | |
wie es das ganze Schulleben auf den Kopf stellen würde“, sagt die Schülerin | |
aus der Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln. „Also habe ich es selbst | |
ausprobiert.“ | |
Seit ChatGPT Ende November 2022 gestartet ist, drehen sich die Diskussionen | |
in sozialen Netzwerken oft um das auf einer künstlichen Intelligenz (KI) | |
basierende Sprachsystem. Und Spiegel, Zeit, FAZ machen KI zum Titelthema. | |
Was KI bereits alles kann, wo KI schon überall eingesetzt wird, wann KI | |
unsere Arbeit übernimmt. Wöchentlich gibt es neue Experteninterviews, oder | |
die KI schreibt die Kolumnen gleich selbst – wie einmal im Monat in der | |
wochentaz, wo [1][die künstliche Intelligenz Anic T. Waed Autorin der | |
Kolumne „Intelligenzbestie“ ist]. | |
ChatGPT, so heißt es, könne komplexe Fragen beantworten, gebe Erklärungen | |
und Tipps, helfe genauso schnell bei der Reiseplanung, wie sie einen | |
Computercode oder ein neues Theaterstück schreibt. | |
„Zuerst habe ich die Englischaufgaben damit gemacht“, sagt Siham. „Frage | |
eingeben und die Antwort kopieren. Das geht total einfach, wenn man mal | |
faul ist oder keine Zeit hat.“ Auch bei grundsätzlichem Lernstoff, für den | |
im Unterricht der Oberstufe mal wieder nicht genug Zeit blieb, hilft | |
ChatGPT nach. Dadurch wurde die KI zum Standard-Tool der 17-Jährigen. „Wenn | |
mir die Antwort nicht ausreicht, schreibe ich:,Erkläre das genauer', oder | |
ich stelle meine Frage anders. Schon bekomme ich einen neuen, | |
detaillierteren Text, der mir beim Lernen hilft.“ | |
## War das jetzt schon gemogelt? | |
In diesen Tagen macht sich mal Begeisterung breit, mal Besorgnis. Dabei | |
hätten wir auch schon vor Jahren von KI überwältigt sein können: Erst | |
bezwingt ein Computer den Weltmeister im Schach, dann helfen Navis beim | |
Autofahren, später empfehlen uns Algorithmen personalisierte Inhalte wie | |
Bücher, Musik, Filme und Schnäppchen. Aber so richtig von den Socken sind | |
wir erst, als eine KI beginnt, auf Zuruf verrückte Bilder zu zeichnen oder | |
in einem Chatfenster mit uns zu plaudern. Faszinierend und gruselig | |
zugleich. | |
Gruselig vor allem für Schulen und Universitäten. Denn dort, wo Schreiben | |
eine Persönlichkeit ausbilden, kritisches Denken fördern und junge Menschen | |
zu mündigen BürgerInnen erziehen soll, beginnen die jungen Menschen, das | |
Schreiben einer Maschine zu überlassen. | |
Wenn dieser Schritt aber von einem Computer übernommen wird, geht in der | |
Persönlichkeitsentwicklung nicht etwas Zentrales verloren? Muss das | |
Bildungswesen einschreiten? Kann man das überhaupt verhindern? | |
Gerade wurde Siham von ihrem Lehrer erwischt. Was heißt schon „erwischt“: | |
„Warum soll ich nicht ChatGPT benutzen? Ist doch auch nicht groß anders als | |
Googeln.“ Siham sucht in ihrem Chatverlauf mit ChatGPT, um welches Thema es | |
ging, kann den Dialog mit der Sprach-KI aber auf die Schnelle nicht finden. | |
Es war im Politikkurs, die Hausaufgabe hatte irgendwas mit | |
Verfassungsorganen und dem Bundesrat zu tun. „ChatGPT hat da auch ganz gute | |
Antworten geliefert, aber dann ist mein Lehrer stutzig geworden.“ | |
„Das war Zufall“, sagt Lehrer Friedemann Gürtler. „Ich hatte mit ChatGPT | |
gespielt und viele dieser typischen, abwägenden Antworten erhalten.“ | |
Sihams Sätze in der Hausaufgabe hatten einen ganz ähnlichen Ton. „Die | |
abwägende Antwort hat nicht so recht zu der eindeutigen Fragestellung | |
gepasst.“ | |
Hat Siham etwas Verbotenes getan? Hat sie getäuscht? Plagiiert? Friedemann | |
Gürtler war sich da auch nicht so ganz sicher. Also hat er Siham gebeten, | |
ein Referat über ChatGPT zu halten. Da hatten schon die meisten | |
SchülerInnen in Sihams Oberstufe von dem Programm mitbekommen. „Inzwischen | |
nutzt jeder ChatGPT für die Schule“, sagt Siham. „Das ist total nützlich | |
und auch richtig so. Nur wird es ab jetzt für die Lehrkräfte schwierig | |
werden, die schriftlichen Leistungen zu bewerten.“ | |
Dass Computer Fließtexte generieren, die sich nicht von jenen unterscheiden | |
lassen, die Menschen verfassen, ist für die Lehre ein Riesenproblem. | |
[2][ChatGPT soll an der Uni von Minnesota sogar schon eine Juraprüfung | |
bestanden haben.] Auch im Theorieteil, den MedizinerInnen ablegen müssen, | |
um in den USA praktizieren zu dürfen, hat ChatGPT locker die | |
vorgeschriebene Mindestpunktzahl erreicht. | |
Warum also nicht einfach ChatGPT verbieten? | |
In den USA ist das teilweise schon geschehen, der Schulbezirk in New York | |
hat sich dazu entschieden. In der EU feilen Kommission und Parlament seit | |
zwei Jahren am Artificial Intelligence Act, dem ersten Regelwerk für KI. | |
Sogenannte Hochrisikoanwendungen sollen dabei eingeschränkt werden wie die | |
Gesichtserkennung oder die Prüfung der Kreditwürdigkeit. ChatGPT ist per | |
Definition auch ein Hochrisiko, solange die generierten Texte nicht einer | |
Person zugeschrieben werden. Irgendjemand muss ja dafür geradestehen, | |
sollte die Maschine sexistischen, rassistischen, manipulativen, | |
zusammengelogenen Mist verzapfen. Kann man Schulen so eine Maschine | |
zumuten? | |
## Berliner Firma bringt eigene Version heraus | |
Gerade einmal fünf Tage brauchte ChatGPT, um weltweit eine Million | |
NutzerInnen zu erreichen. Kein anderer Onlinedienst hat diese Marke so | |
schnell geknackt. Instagram brauchte knapp drei Monate, Twitter zwei Jahre. | |
Der irrwitzige Hype überrascht auch Fachkreise, denn Sprachmodelle wie GPT, | |
die bei Google LaMDA und bei Facebook OPT-175B und jetzt LLaMA heißen, | |
gibt es schon etwas länger, auch wenn sie noch nicht frei nutzbar sind. | |
[3][GPT steht für Generative Pretrained Transformer und ist ein neuronales | |
Netz, dessen Verbindungen sich zwischen den Rechenknoten bei Erfolg | |
verstärken.] Dadurch lernt das Netzwerk, ähnlich wie unser Gehirn es tut. | |
Die künstliche Intelligenz wurde mit massenhaft Textdaten trainiert: | |
Artikel, Aufsätze, Blogeinträge, wissenschaftliche Papers, Belletristik, | |
Kochrezepte – Millionen Texte, größtenteils aus dem Internet und ein | |
beträchtlicher Stapel Fachbücher. | |
Es ist in etwa so, als hätte man ein Kind in eine Bibliothek gesperrt, wo | |
es sich mit der Zeit einen Sinn aus den Texten zusammengereimt hat. Welcher | |
Buchstabe folgt mit welcher Wahrscheinlichkeit auf den anderen? Welches | |
Wort folgt auf welches Wort? Welche Wortfolgen passen grammatikalisch und | |
inhaltlich zusammen? Auf der Grundlage von erlernten statistischen | |
Wahrscheinlichkeiten imitiert ChatGPT menschliche Sprache und erzeugt mit | |
jeder Anfrage einen neuen Text. In seiner inzwischen dritten Version macht | |
das Programm das so gut, dass unsereins in der Regel die Luft wegbleibt. | |
Für ChatGPT wurde das bestehende Sprachmodell lediglich mit einer | |
Chatfunktion garniert. Das macht es leicht, das Programm zu benutzen, und | |
bringt auch noch Spaß mit ins Spiel. So können alle „prompten“, also eine | |
Anfrage an das Programm richten. Und die Erfinder von ChatGPT konnten ihr | |
Monster auf die ganze Welt loslassen, das seitdem durch die Prompts von | |
derzeit weit über 100 Millionen Menschen weiter trainiert und verbessert | |
wird. | |
Dass diese kostbaren Daten gerade Sekunde für Sekunde den Internetriesen | |
durch die Lappen gehen, macht ChatGPT zu dem großen Ding, das es gerade | |
ist. Zum ersten Mal spurtet Google nicht vorweg, sondern muss nachziehen. | |
Hastig hat es sein eigenes künstliches Sprachmodell namens Bard | |
veröffentlicht, das bei dessen Vorstellung gleich mal eine falsche Info | |
verbreitete und die Aktie von Googles Mutterkonzern Alphabet absacken ließ. | |
Chinas Suchmaschine Baidu antwortet derweil mit ihrem Chatbot Ernie. | |
Ernie und Bard, kein Witz. Und ausnahmsweise gibt es mit dem Heidelberger | |
Unternehmen Aleph Alpha auch einen deutschen Player, der in Sachen KI auf | |
Augenhöhe mitmischt. | |
Andere Firmen nutzen GPT3 für ihre Produkte, alle können die Sprach-KI | |
kostenfrei in ihre Software einbauen. Zu diesen Firmen gehört auch | |
Mindverse aus Berlin-Spandau. Geschäftsführer Noel Lorenz, 25 Jahre alt, | |
spaziert durch die neuen Räume, in die er vor Kurzem mit seinem Team | |
eingezogen ist. Sein Personal verdoppelt sich gerade, der hintere Trakt der | |
Etage ist noch eine Baustelle. | |
„Von GPT3 war ich schon fasziniert, als es noch in der Betaphase steckte“, | |
erzählt Lorenz. Da war das Modell endlich in der Lage, selbstständig Muster | |
in seinen Daten zu erkennen und menschenähnliche Texte zu erstellen. Das | |
gelang, weil die KI mit einer Datenmenge trainiert wurde, die bald | |
1.500-mal so groß war wie die der Vorgängerversion. | |
Vor zwei Jahren gegründet, surft Mindverse nun auf der Erfolgswelle von | |
ChatGPT mit. „Im Vergleich zu GPT kann Mindverse besser Deutsch und ist | |
dank seiner Livedaten aus dem Internet moderner“, sagt Lorenz. ChatGPT | |
greift nur auf Datensätze bis zum Jahr 2021 zurück. Seit zehn Jahren | |
programmiert Lorenz, vor sieben Jahren hat er seine erste Firma gegründet, | |
dann verkauft. Er hat ein bisschen Medizin studiert, ist aber lieber zu BWL | |
gewechselt. Der schwarze Steve-Jobs-Rolli unter dem Sakko lässt erahnen, | |
welche Richtung seine Karriere einschlagen soll. | |
Neben der Chatfunktion bietet Mindverse zusätzliche Feintuning-Modelle, die | |
sich gezielter auf die Datensätze beziehen als bei ChatGPT. „Das neuronale | |
Netzwerk antwortet nur so gut, wie es gefragt wird. Daher konkretisieren | |
wir die Anfragen mit unserer Software.“ Eine Funktion ist dafür gemacht, | |
Stichpunkte in Fließtext zu verwandeln, eine andere soll Aufsätze mit | |
Thesen und Argumenten schreiben, die nächste werbewirksame Überschriften | |
erfinden oder Songtexte dichten. | |
„Die KI wird ständig von unseren Powerusern trainiert und bewertet“, sagt | |
Lorenz. Das bedeutet, dass das Sprachmodell weiter lernt und umso | |
menschlicher wird, während es den Gesprächspartner spielt. Außerdem bezieht | |
die Maschine Formeln ein, die die Lesbarkeit von Texten berechnen: das | |
Flesch-Kincaid-Grade-Level, den Gunning-Fog-Index, den Coleman-Liau-Index. | |
Diese Formeln zählen Buchstaben, Silben und Wörter und berechnen, wie | |
verständlich ein Satz sein muss. Unabhängig von dessen Inhalt ist das | |
wichtig für die Suchmaschinenoptimierung. Je besser die berechnete | |
Lesbarkeit, desto höher das Ranking bei Google und Co. | |
Im Gegensatz zur ersten Version von ChatGPT gibt Mindverse auch die | |
Websites an, die die KI als Quelle genutzt hat. Das könnte bei Hausarbeiten | |
ein entscheidender Vorteil sein. „Wir haben bestimmte offizielle Websites | |
als seriös eingestuft und bewerten Quellen höher, je häufiger sie verlinkt | |
werden“, sagt Noel Lorenz. Außerdem hat der Mindverse-Kopf auch an den | |
Datenschutz gedacht. Die Prompts und Entwürfe können über anonyme Konten | |
verfasst werden. | |
Das hat Thomas Süße auf das Programm aufmerksam gemacht. Er steht vor einem | |
Smartboard in den Räumen des Campus Gütersloh, einem schlichten weißen | |
Gebäude hinter dem Bahnhof, auch „Gleis 13“ genannt. Die Studierenden | |
machen hier hauptsächlich etwas mit Maschinen: Mechatronik, Engineering, | |
Logistik, digitale Technologien. Sozialwissenschaftler Süße bringt die | |
menschliche Komponente in die Maschinenwelt, indem er zur Transformation | |
der Arbeit forscht. „Die Technisierung verändert, beschleunigt, erleichtert | |
unsere Arbeit“, erklärt der Professor. „Sie setzt uns aber auch unter | |
Druck.“ | |
Technostress nennt Thomas Süße das, die Schattenseite der Digitalisierung. | |
Er kritzelt blaue Pfeile und Kürzel an die Wand und denkt laut: „Bislang | |
haben sowohl Hochschulen als auch Schulen nur sehr wenig wissenschaftliche | |
Erkenntnisse darüber, wie Schüler und Studierende die Sprach-KI sinnvoll | |
nutzen.“ Es gibt noch keine gesicherten Antworten. Wie auch, ChatGPT ist zu | |
neu – und das Bildungswesen zu langsam. „Darum brauchen wir jetzt | |
Grundlagenforschung, und zwar schnell.“ | |
Doch Lernerfolg lässt sich nicht so einfach nachweisen. [4][Gelernte | |
Kompetenz, das umfasst neben Fachwissen auch kreatives Schaffen, kritisches | |
Denken, Zusammenarbeit, die Fähigkeit, sich mitzuteilen.] „Das sind alles | |
persönlich empfundene und eingeschätzte Werte“, sagt Süße. „Mein Job ist | |
es, diese schwer erfassbaren Variablen besser messbar zu machen.“ Dazu will | |
er eine große Gruppe SchülerInnen befragen, die regelmäßig eine Sprach-KI | |
nutzt. | |
Der Plan: Eine Klassenstufe soll ihre Facharbeit schreiben und dabei | |
Mindverse verwenden dürfen. „Wir wollen wissen, welche Rolle die Sprach-KI | |
spielt: ob sie Ideen einbringt, als Sparringpartnerin im Schreibprozess | |
hilft, oder Co-Autorin wird.“ An der ersten Untersuchung werden 120 junge | |
Leute teilnehmen. Wie praktisch, dass die benötigte Kohorte quasi vor der | |
Haustür des Professors lernt. | |
## Den richtigen Umgang mit ChatGPT lernen | |
Das Evangelisch Stiftische Gymnasium (ESG) in Gütersloh ist ein bisschen | |
besonders. Protestanten gründeten es, als die ersten Maschinen begannen, | |
die Arbeitswelt auf den Kopf zu stellen, und die Aufgaben des Handwerks | |
übernahmen. Es heißt, hier würden RichterInnen, ChirurgInnen und | |
ManagerInnen von morgen die Schulbank drücken. | |
Der in Gütersloh ansässige Medienkonzern Bertelsmann hat den Backsteinbau | |
der Schule um eine verspiegelte Mediothek mit Tonstudio und | |
Videoschnittraum ergänzt. Seit einem Vierteljahrhundert sind Laptops hier | |
Teil des Unterrichts. Dank Lernplattform und Endgeräten wechselte das ESG | |
im Lockdown spielend in den Distanzunterricht. Und auch bei der Verwendung | |
von Sprach-KIs gibt es an dieser Schule nur wenig Berührungsängste. | |
Deutschlehrer Hendrik Haverkamp hat seine 8. Klasse erst neulich gegen | |
ChatGPT antreten lassen. Die Aufgabe war eine Gedichtanalyse. Nachdem die | |
Schülerinnen und Schüler ihre Arbeiten abgegeben hatten, kam die KI an die | |
Reihe. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um ihren Text abzuliefern: eine | |
fein strukturierte Analyse mit aufeinander aufbauenden Argumenten und ohne | |
einen Rechtschreibfehler. „Das sah auf den ersten Blick nach einer | |
hervorragenden Arbeit aus“, erzählt Haverkamp. „Nur war der Text inhaltlich | |
komplett falsch.“ | |
## Sprachmaschine statt Wissensmaschine | |
Die KI schrieb das Gedicht „Berliner Abend“ von Paul Boldt lieber Erich | |
Kästner zu und erzählte etwas über hübsche Naturbeobachtungen, die in | |
Boldts Schilderungen nicht wirklich vorkommen. Die Argumente der Maschine | |
waren teils erzkonservativ, teils weltfremd. Das erste Urteil der Klasse | |
über ChatGPT: „Boomer-Tool“. „ChatGPT ist wie ein Insidergag: Ich verste… | |
ihn nur dann, wenn ich genug darüber weiß“, sagt Haverkamp. | |
Es ist Mittwoch, ein eisiger Morgen, erste Stunde, Deutsch. In der 8. | |
Klasse sind die Laptops aufgeklappt, kein Heft, kein Stift liegt auf den | |
Tischen. Lehrer Haverkamp steht vor dem Bildschirm an der Wand, wo früher | |
mal eine Kreidetafel hing, und schickt ein paar Meldungen über Elon Musk | |
auf den Monitor. „Welche Nachricht ist Fake und von ChatGPT, welche ist | |
echt?“ Es gibt erste Vermutungen, der Schreibstil der KI ist der Klasse | |
längst vertraut. | |
„ChatGPT macht keine Umschreibungen wie ‚Der 51-Jährige‘.“ „Das Wort | |
‚Milliarden‘ würde nicht mit,Mrd.' abgekürzt.“ Haverkamp zeigt der Klas… | |
ein Tool, das künstlich generierte und von Menschen verfasste Texte | |
unterscheiden können soll. Kann es aber nicht. Die Sprach-KI ist zu weit | |
entwickelt, das Prüfungsprogramm aufgeschmissen. Dann kopiert ein Schüler | |
fix einen Textbaustein der menschengemachten Meldung aus der Zeitung, sucht | |
im Netz und findet die Quelle. | |
„Mir wäre es lieber, wenn ChatGPT auch mal zugeben würde, dass es keine | |
Ahnung hat“, sagt Lilli aus der 10. Klasse. „Eine eigene Meinung würde ihr | |
auch gut stehen.“ Im Projektunterricht beschäftigt sich die 16-Jährige | |
gerade mit den sogenannten Neuen Medien. „Die KI relativiert alle Argumente | |
und geht nicht so richtig in die Tiefe. Man braucht eigenes Wissen und muss | |
skeptisch bleiben, damit man keine Fehler übernimmt.“ Bei Themen, für die | |
es kein Richtig oder Falsch gibt, sagt Lilli, wenn es ethisch, emotional | |
oder persönlich wird, dann sei ChatGPT blank. | |
ChatGPT ist eine Sprachmaschine, keine Wissensmaschine. Das Programm | |
schwafelt, immer selbstbewusst, immer wieder inhaltsarm. Es verwendet | |
Worthülsen, bedient sich aus Quellen wie Blogs oder der Boulevardpresse, | |
ignoriert direkte Zitate, liest nicht zwischen den Zeilen, erzählt lieber | |
irgendetwas, als gar nichts zu texten. Viele Floskeln, inflationär | |
verwurstete Fremdwörter, sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit, | |
eine Illusion des Plausiblen. | |
Dennoch arbeitet auch Lillis Mitschüler Max viel mit dem Sprachtool. „Wenn | |
ich einen Aufsatz schreibe oder etwas programmieren will. Die KI verkürzt | |
die Zeit für die Fleißarbeit, damit ich mehr Zeit für die Denkarbeit habe.“ | |
Wegen der Sache mit ChatGPT waren auch schon mehrere Medienleute am | |
Gymnasium und haben mit ihm gesprochen. Gerade erst kam ein Fernsehteam | |
vorbei, erzählt Max. Die hätten für ihren Beitrag aber mal schön seine | |
Antworten verdreht. „Es kam so rüber, als würde ich die KI aus purer | |
Faulheit alle Hausaufgaben erledigen lassen.“ Ganz so einfach sei das nun | |
auch wieder nicht. | |
Im Mai werden Max und Lilli ihre Facharbeiten schreiben, KI-unterstützt, | |
für die Studie von Thomas Süße. „Ich kann mir vorstellen, dass das Programm | |
eine Inspirationsquelle sein wird“, sagt Lilli. „Es hat mir vorher schon | |
gute Überschriften oder auch Argumente vorgeschlagen, auf die ich selbst | |
nicht gekommen wäre. Warum sollte ich solche Ideen nicht benutzen.“ | |
Für die meisten SchülerInnen und Studierenden ist das noch nicht so | |
selbstverständlich wie für Lilli und Max. Künstliche Intelligenz für eine | |
Abschlussarbeit zu verwenden ist zwar kein Plagiat. Dafür müsste das | |
geistige Eigentum einer Person gestohlen werden, und noch machen wir | |
zwischen Mensch und Maschine einen klaren Unterschied. Jedoch kann man die | |
Texte einer KI auch schlecht als eigenes geistiges Eigentum ausgeben. Das | |
wäre eher als Täuschungsversuch zu werten. | |
## Was ist erlaubt, was verboten? | |
Diese Art der vermeintlichen Täuschung bringt zwei Probleme mit sich. | |
Erstens: Das ohnehin schon überlastete Lehrpersonal müsste nach | |
maschinellem Ghostwriting fahnden. Aber wann? Und wie? Schon jetzt bekommt | |
es kein Tool hin, zielsicher KI-Content zu erkennen. Das wird auch in | |
Zukunft kaum gelingen, da die Sprach-KI ja ständig besser, | |
menschenähnlicher wird. | |
Zweitens: Wo fängt die Täuschung an? Ganz sicher, wenn man ganze | |
KI-generierte Absätze verwendet. Aber auch schon bei ein paar Worten? Oder | |
bei einer Idee, die mir von allein nicht eingefallen ist? Oder wenn ich | |
meinen Text durch ein Rechtschreibprogramm laufen lasse? Wenn ich einen | |
Taschenrechner benutze? | |
Im Gegensatz zu den USA scheinen es die Bundesländer nicht auf ein Verbot | |
von ChatGPT abzusehen. Auf der Bildungsmesse Didacta in Stuttgart hieß es | |
gerade: Sprach-KI hat zu viel Potenzial, um sie zu verbieten. | |
[5][Seitens des Hessischen Kultusministerium hieß es: KI-Anwendungen | |
könnten „Schülerinnen und Schüler individuell in ihrem Lernprozess | |
unterstützen“.] Viel konkreter wird es bis dato nicht. [6][Immerhin | |
veröffentlichte das nordrhein-westfälische Schulministerium einen Leitfaden | |
zum Umgang mit KI.] Darin wird die Arbeit mit Textrobotern nicht verboten, | |
stattdessen auf die Pflicht der Schulen hingewiesen, Medienkompetenz zu | |
lehren. | |
Eine Richtlinie, wie die Lehrerinnen und Lehrer künftig Leistungen prüfen | |
sollen, hat noch niemand geschrieben. Und so scheint es, als würden wir der | |
künstlichen Intelligenz genauso begegnen wie den anderen Krisen der | |
jüngeren Zeit auch. Klima, Corona, KI-Weltherrschaft: Wir sehen es kommen, | |
wir wissen, dass wir handeln müssen – und sitzen es lieber aus. | |
„Die Angst ist vor allem so groß, weil es an Erfahrung fehlt“, sagt Anja | |
Strobel. Die Psychologin forscht im Bereich „Hybrid Societies“ an der TU | |
Chemnitz daran, wie der Mensch mit der Maschine interagiert und ein | |
vertrauensvolles Miteinander in der Arbeitswelt möglich ist. Strobel hat | |
Interviews ausgewertet, die der Gütersloher Sozialwissenschaftler Thomas | |
Süße mit ArbeiterInnen in einer Fabrik geführt hat. Sie sprachen darin über | |
ihre Erfahrung, eine künstliche Intelligenz wie einen Azubi anzulernen. | |
„Wir haben uns angesehen, wie Menschen Roboter wahrnehmen, welche | |
Eigenschaften sie ihnen zuschreiben und welche Aufgaben sie die Roboter | |
übernehmen lassen“, erklärt die Psychologin. Denn der technologische | |
Fortschritt entwickelt sich nur in die Richtung, die wir bereit sind | |
mitzugehen. Der optimistische Weg ist der: Die KI wird viel Arbeit | |
vereinfachen und Jobs nur dort ersetzen, wo sie neue schafft. | |
Die Maschinen könnten die anstrengenden, die monotonen Aufgaben übernehmen, | |
sagt Anja Strobel, während die Menschen sich auf das Kreative, das | |
Sinnstiftende, das Miteinander konzentrieren. „Doch das unberechenbare Neue | |
macht uns nervös. Das kennen wir auch aus anderen Bereichen unseres | |
Lebens.“ | |
Was ChatGPT betrifft, hat Strobel weniger Sorge, dass es den universitären | |
Alltag stark beeinflussen wird. „Wir haben einiges ausprobiert und unseren | |
Spaß damit gehabt“, sagt die Professorin. „Manches kann das Programm gut, | |
woanders versagt es grandios.“ Den Uni-Alltag würde die Sprach-KI zunächst | |
wenig verändern. „Die Studierenden dürfen generell keine Texte für bare | |
Münze nehmen, nur weil sie gut klingen.“ Die Prüfungen hat Anja Strobel | |
auch vorher schon lieber mündlich abgenommen. „Das ist zwar sehr | |
zeitaufwendig, aber im Gespräch kann ich ganz anders schauen, ob die | |
Studierenden verstanden haben, was sie gelernt haben.“ | |
Wenn es nach Lehrer Haverkamp geht, ist dagegen der Punkt erreicht, den | |
Unterricht und die Prüfungskultur grundlegend zu ändern. „Stellen Sie sich | |
vor, Sie sollen Ihr Handy abgeben, das WLAN ausstellen und sich in einen | |
Raum einschließen, um dort nach 90 Minuten mit einer ausgefeilten Darlegung | |
Ihrer Standpunkte herauszukommen“, schildert er die gängige | |
Prüfungssituation. „Im wahren Leben würde das niemand von Ihnen erwarten, | |
aber genau das erwarten wir von unseren Schülern.“ | |
Kann man das nicht verändern? Schwierig. Zwar sind die Lehrpläne längst | |
kompetenzorientiert, was bedeutet, dass weniger Wissen, dafür mehr | |
Fähigkeiten vermittelt werden. Aber in der praktischen Umsetzung bleibt es | |
meist beim Pauken für den Wissenstest. Die KI kann das jetzt ändern. | |
Vielleicht erzwingt sie es sogar. Denn sie würde es den Lehrkräften | |
leichter machen, ihren Unterricht auf den Lernprozess zu beziehen. Will | |
heißen: mehr Weg statt Ziel, mehr Entwicklung als das geschriebene | |
Ergebnis. | |
Vom „Flipped Classroom“ ist schon lange die Rede. Dort sollen Hausaufgaben | |
und Vermittlung des Stoffs vertauscht werden: zu Hause Inhalt erarbeiten, | |
im Unterricht anwenden. Die Sprach-KI als Lernassistent macht’s möglich. | |
Ganze Unterrichtsstunden würden hinfällig, weil die Grundlagen ein Programm | |
übernehmen könnte. „Dann müsste ich die Klasse nicht mehr zu stumpfsinnigen | |
Aufgaben ermutigen, die ich danach stumpfsinnig korrigieren muss“, sagt | |
Haverkamp. „Stattdessen könnte ich die Zeit für Feedback nutzen und die | |
Schülerinnen und Schüler individuell betreuen.“ | |
Noch bevor die Studie über die Facharbeiten am Gymnasium in Gütersloh | |
beginnt, hat Haverkamp schon eine Ahnung, was dabei herauskommen wird. Der | |
Deutschlehrer ließ bereits eine Arbeit schreiben, bei der die Klasse | |
ChatGPT nutzen durfte. Die von der KI stammenden Argumente sollten die | |
SchülerInnen kenntlich machen. „Die besten Noten bekamen diejenigen, die | |
die wenigsten KI-Anteile übernommen hatten. Sie ließen sich nur | |
inspirieren. Je schwächer die Schüler in der Arbeit waren, desto mehr | |
hatten sie übernommen.“ | |
## Bildungsschere wächst durch Sprach-KIs | |
Daraus ergibt sich neben der Frage der Prüfung und der Täuschung ein viel | |
größeres Problem: die Bildungsschere. „Die starken Schüler profitieren am | |
meisten von der KI“, sagt Haverkamp. „Sie können die Technologie | |
reflektierter einsetzen. Die einen nutzen die gewonnene Zeit zum Lernen, | |
die anderen für außerschulische Hobbys.“ | |
Die KI könnte die Schere gleich in vielerlei Hinsicht auseinandertreiben: | |
zwischen den Schulen mit besserer und schlechterer Ausrüstung, zwischen den | |
leistungsstärkeren und leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern – u… | |
auch zwischen den Armen und Reichen, wenn die kostenpflichtige | |
Premium-Sprach-KI mal besser sein wird als die herkömmliche. | |
Und das gilt nicht nur für Uni und Schule. Wir alle begegnen künstlicher | |
Intelligenz, benutzen sie aktiv oder unbewusst. Die einen wissen, dass sie | |
von einer Maschine mit Infos geflutet werden. Andere lassen sich eventuell | |
beeinflussen. Wahrscheinlich wird es bald normal sein, dass wir zwischen | |
KI-Inhalten und von Menschen verfassten Texten unterscheiden, zwischen | |
Billigware und feingeistigem Handwerk. Sofern wir den Unterschied überhaupt | |
merken. | |
In dieser Woche hat OpenAI sein neues Sprachmodell GPT4 veröffentlicht. Im | |
Vergleich zu seinem Vorgänger GPT3 hat es einen fünfmal so großen Datensatz | |
und kann statt nur in Textform auch in Bildern antworten. | |
18 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Anic-T-Wae/!a110123/ | |
[2] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/chatgpt-jura-pruefung-minnesota-100… | |
[3] https://www.scinexx.de/dossierartikel/wie-funktionieren-chatgpt-und-co/ | |
[4] https://www.joeran.de/die-4k-skills-was-meint-kreativitaet-kritisches-denke… | |
[5] https://www.egovernment.de/schulen-und-universitaeten-sehen-chancen-von-cha… | |
[6] https://www.schulministerium.nrw/system/files/media/document/file/handlungs… | |
## AUTOREN | |
Philipp Brandstädter | |
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