# taz.de -- Deutsche-Knigge-Gesellschaft: Die große Angst vor der Jogginghose | |
> Jogginghosen in Schulen: Das geht gar nicht. Sagt zumindest die | |
> Deutsche-Knigge-Gesellschaft und fordert deswegen nun ein Verbot. | |
Bild: Von Beyoncé bis Lars Eidinger tragen doch alle schon Jogginghosen als Ar… | |
Waren Sie jemals overdressed oder underdressed? Oder hinterfragen Sie | |
solche Konzepte und tragen einen Jutebeutel mit der Aufschrift: „Ist mir | |
egal, ich lasse das so“. Und dürfen Ihre [1][Kinder] anziehen, was sie | |
wollen? | |
Wir wissen, Kleider allein machen keine Leute, und diskutieren trotzdem | |
über die [2][alterslose Jogginghose]. Dem [3][Modedesigner] Karl Lagerfeld | |
wird das Zitat zugeschrieben: „Wer Jogginghose trägt, hat die Kontrolle | |
über sein Leben verloren.“ | |
Ich weiß nicht, wie es ihnen ging, aber ich sehe seit Jahren überall | |
Jogginghosen: im Restaurant, beim Theaterbesuch oder am Flughafen. Also an | |
all den Orten, die mit einem gewissen sozio-ökonomischen Status verbunden | |
sind und wo Besucher*innen Lagerfeld scheinbar den Mittelfinger zeigen. | |
Natürlich haben sie keine Angst davor, dass es als Kontrollverlust gedeutet | |
werden könnte. Schließlich haben sie genug Kohle in der Hosentasche ihrer | |
Jogginganzüge. Tragen Beyoncé oder Lars Eidinger die Jogginghose, dann sind | |
sie uneitel. Tragen Aisha, Murat und Kevin vom „Brennpunkt“ die | |
Jogginghose, dann sieht es mit der Wertung anders aus. Die Jogginghose ruft | |
dann ähnlich wie die Shisha Assoziationen hervor, die für das | |
Beängstigende, weniger intellektuelle stehen. Für die Russenhocke, für | |
Hände in der Hosentasche. | |
## Lehrkräfte mit Wanderschuhen oder in Regenschutzhosen | |
Nun fühlte sich auch die Deutsche-Knigge-Gesellschaft bemüßigt, sich zur | |
Jogginghose zu äußern. Sie unterstützt die Forderung, Jogginghosen auf | |
Schulhöfen zu verbieten. Die Jogginghose sei ein Funktionskleidungsstück | |
für den Sport oder danach. Schulzeit sei Arbeitszeit, daher wäre sie ein | |
No-Go. Nicht die Schule, die Jogginghose! | |
Ich habe Bilder aus meiner Schulzeit vor Augen. Ich sehe Lehrkräfte mit | |
Wanderschuhen, in Sport-T-Shirts oder Regenschutzhosen. Dabei ist es ihre | |
Arbeitszeit, denn sie werden dafür bezahlt, nicht die Schülerschaft. | |
Gleichzeitig sind die Jugendlichen in der Pubertät. Sie sind dabei, sich | |
von ihren Familien zu distanzieren, hinterfragen die Normen der | |
Gesellschaft und versuchen sich zurechtzufinden. Dafür benötigt es die | |
Freiheit zum Ausprobieren. Wir wissen auch, dass ein solches Verbot vor | |
allem bei Jugendlichen getreu dem Motto „Ohne meine Jogginghose? Ohne | |
mich!“ schnell zur Schuldistanz führen kann. Und das wollen wir doch alle | |
nicht, oder? | |
Schule ist auch ein Spiegel der Gesellschaft. Wir stehen vor der Frage, ob | |
die Schule die gesellschaftlichen Vorgaben reproduzieren soll oder ob sie | |
der Raum für demokratische Experimente ist und somit ein Vorbild für die | |
Gesellschaft sein kann. Von einem Jogginghosen-Verbot zu einer Uniform ist | |
es nicht weit. Genau genommen ist das Verbot Teil des subtilen | |
Uniformierungsfetischs des kleinen Mannes. Wenn die Knigge-Gesellschaft | |
wirklich voller Overthinker*innen ist, dann sollte sie auch streng sein, | |
wenn es um die Funktion von Kleidung geht. Kleidung ist nicht nur | |
atmungsaktiv oder wind- und wetterfest, Kleidung fungiert auch als Ausdruck | |
der Persönlichkeit. Kleidung ist Mode. Mode ist politisch. Mode ist | |
Statement, Zugehörigkeit und Abgrenzung. Mode ist Zeitgeist. | |
Arbeitskleidung gibt es in dem Sinne nicht, außer vielleicht den Blaumann | |
oder den weißen Kittel. Heutzutage kann man mit Birkenstocks ins Büro und | |
mit Jeans in einer Bankfiliale arbeiten. Das liegt natürlich nicht nur am | |
Freigeist der Arbeitgeber. Sie wissen aber, dass sie nur mit der Freiheit | |
zur Differenz zukünftige Arbeitnehmer locken können. | |
## Knigge war bereit für den Umsturz | |
Ich höre das Raunen aus der ersten Reihe der Kniggerianer, wo jene | |
vermeintlich Angepassten sitzen, die die Regeln allein nach ihren | |
Vorstellungen gestalten wollen: Es gäbe universale Grundsätze und dazu | |
gehöre, Jogginghose nur in der Freizeit zu tragen. Die Kniggerianer sind | |
Menschen, die Knigge nur so gut kannten wie ein Volk seinen König. Denn der | |
adlige Knigge erbte Schulden, die er abbezahlen musste, indem er arbeitete. | |
Er war genervt vom arbeitslosen Adel. Knigge hatte das Selbstbewusstsein | |
eines Adligen transgenerational geerbt. In Verbindung mit dem Trauma des | |
Abstiegs solidarisierte er sich mit dem Rand der Gesellschaft und war | |
bereit für einen Umsturz. Knigge war best of both worlds. Dementsprechend | |
forderte er vor allem Flexibilität im Umgang miteinander. Gehört dazu | |
nicht, dass wir andere Menschen nicht aufgrund ihres Äußeren abwerten? | |
Ich sehe Zukunftsbilder aus der Schule. Lehrkräfte, die aus Solidarität in | |
Jogginghose zur Schule kommen. | |
In diesem Sinne wünsche ich uns eine Welt, in der man anziehen kann, was | |
man mag. Wem der Anblick der Jogginghose den Verstand raubt, dem empfehle | |
ich Augenkontakt und sich nach Feierabend in Gedankendehnung zu üben. Denn | |
dies ist notwendig, wenn wir pluralistisch in Frieden leben wollen und uns | |
auf das Wesentliche konzentrieren möchten. Das Wesentliche ist innerhalb | |
und außerhalb der Schule immer noch: lernen. | |
31 Mar 2023 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Nadire Y. Biskin | |
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