# taz.de -- Film „Das Blau des Kaftans“ aus Marokko: Hände, die Goldorname… | |
> Tabu der Homosexualität: Die marokkanische Regisseurin Maryam Touzani | |
> erzählt in ihrem Film von verschwindenden Traditionen. | |
Bild: Einträchtig? Youssef (Ayoub Missioui, l.), Mina (Lubna Azabal) und Halim… | |
Die Farbe des Kaftans im Mittelpunkt von Maryam Touzanis Film ist etwas | |
Besonderes. Nicht gewöhnliches Blau, sondern ein leuchtendes Petrol sehen | |
Schneider Halim und seine Frau Mina in dem Festgewand, das eine Kundin | |
bestellt hat. Sechs Monate wird sie warten müssen, bis es von Hand mit | |
üppigen Goldbordüren bestickt ist. Keine andere Kundin, die begehrliche | |
Blicke darauf wirft, wird ihr den versprochenen Kaftan mit einem saftigen | |
Aufpreis streitig machen können. | |
Mina (Lubna Azabal) und Halim (Saleh Bakri), ein kinderloses Paar jenseits | |
der 40, führen in „Das Blau des Kaftans“ eine kleine, wie aus der Zeit | |
gefallene Werkstatt in der Altstadt der marokkanischen Stadt Salé. Dabei | |
ist es Mina, die mit dem Stoffhändler verhandelt, die Kundinnen berät und | |
manchmal entschieden schnippisch deren Sonderwünsche abwehrt. | |
Halim, der Malemm genannte Meister seiner aussterbenden Kunst, wirkt | |
verschlossen und scheu, außer wenn er zum Beispiel bemerkt, dass ein | |
seidener Kaftan nicht eng anliegen dürfe, sondern den Körper umspielen | |
solle, oder wenn er handgefertigte Knöpfe bewundert, die er einer | |
Heimarbeiterin abkauft. | |
Die marokkanische Drehbuchautorin, Schauspielerin und Regisseurin Maryam | |
Touzani war lange in London als Journalistin tätig, bevor sie in ihr Land | |
zurückkehrte und mit ihrem Mann Nabil Ayouch an drastisch | |
gesellschaftskritischen Filmen arbeitete, die beim Filmfestival in Cannes | |
großen Anklang fanden. | |
„Das Blau des Kaftans“ ist nach [1][„Adam“ (2019)] Touzanis zweiter Film | |
mit einer ganz anderen eigenwilligen Handschrift: Beide Filme suchen | |
nostalgisch nach dem authentischen [2][Marokko jenseits seiner rasanten | |
modernen Entwicklung], beide entwerfen als Kammerspiele halbwegs | |
märchenhafte Visionen davon, wie kulturelle Tabus durch die individuelle | |
Stärke ihrer Figuren zauberhaft überwunden werden. | |
## Hommage an die Schneiderkunst Marokkos | |
Ging es in Maryam Touzanis Debütfilm „Adam“ (2019) um eine alleinerziehende | |
Mutter und eine von ihrer Familie verstoßene Schwangere, die sich, zunächst | |
einander fremd, am Ende zusammenraufen, eine traditionelle Bäckerei in der | |
Medina erfolgreich am Leben halten und den neuen Erdenbürger Adam begrüßen, | |
verknüpft „Das Blau des Kaftans“ seine Hommage an die schwindende | |
Schneiderkunst Marokkos mit einer Liebesgeschichte, die das geltende Tabu | |
der Homosexualität sanft aus den Angeln hebt. | |
Die faszinierende kleine Zwischenwelt des Films verdankt sich nicht zuletzt | |
den Bildern der polnisch-belgischen Kamerafrau Virginie Surdej. Ihr Spiel | |
mit dem Hell-Dunkel der Innenräume, ihre Großaufnahmen der Hände, die feine | |
Goldornamente nähen (die Hände eines echten Malemm), und die Schraffur | |
wechselnder Bildschärfen, wenn die gefühlte Nähe der Personen zu kippen | |
droht, schaffen eine besondere Sinnlichkeit. | |
Mina und Halim pendeln zwischen Laden und Wohnung, den kaum beleuchteten | |
intimen Schauplätzen des Films. Großfamilie und Nachbarn sind ausgeblendet, | |
alles konzentriert sich auf ihre Zweisamkeit, zu der als dritter | |
Protagonist Halims neuer Lehrling Youssuf (Ayoub Missioui) stößt. | |
Spannung, wenn nicht Eifersucht ist in Minas Blicken spürbar, während Halim | |
scheinbar regungslos die Anziehung unterdrückt, die das Bild des jungen | |
Mannes auf ihn ausübt, etwa in der wiederkehrenden Szene, in der er im | |
Sonnenlicht vor dem Laden damit beschäftigt ist, Goldfäden zu üppigen | |
Kordeln zu zwirbeln. | |
## Mütterliche Liebe der Ehefrau | |
Wie die allmähliche Entstehung des Kaftans den melancholischen Rhythmus der | |
Geschichte vorgibt, braucht es Zeit, bis sich Youssuf traut, Halim | |
vorsichtig zu umarmen. In kleinen Gesten und Berührungen am Arbeitstisch | |
und Minas Fragen über die Fortschritte des Lehrlings zeigt sich, dass sie | |
weiß, was lange nicht offen zur Sprache kommen konnte. Halim liebt Mina und | |
schämt sich seiner Homosexualität, aber lebt sie bei seinen Besuchen im | |
Hamam. | |
Maryam Touzanis Szenario weist der belgisch-marokkanischen Schauspielerin | |
Lubna Azabal, einer zierlich-kraftvollen Erscheinung schon in „Adam“ und | |
vielen anderen Filmen aus dem arabischen Raum, in „Das Blau des Kaftans“ | |
die Rolle einer mütterlich Liebenden zu, die zugleich auf die Liebe und | |
Zuwendung Halims angewiesen ist. Auf andere Weise verletzlich als der | |
scheinbar unerreichbare Halim, verschlimmert sich Minas von Beginn an | |
präsente Erkrankung im Lauf der Monate, in denen der blaue Kaftan vollendet | |
werden sollte. | |
Als Youssuf begreift, was Mina für den Geliebten bedeutet und was auf dem | |
Spiel steht, setzt er sich über dessen Zurückweisung hinweg und arbeitet im | |
Haus der beiden weiter – mit einem Mal Teil einer heiteren Ménage à trois. | |
Tanzen am offenen Fenster, vor den heimlichen Augen der Medina, ist | |
plötzlich möglich. | |
Um das ergreifende Ende des Films nicht zu spoilern, sei nur verraten, dass | |
Touzani ihrem Figurenensemble Geheimnis und Poesie zugesteht, auch wenn es | |
schwerfällt, ihr zuzugestehen, dass erst ein Abschied geschehen muss, ehe | |
ihr Film von einem neuen Beginn träumt. | |
16 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
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