# taz.de -- Spielfilm „Seneca“: Destruktion eines Denkers | |
> Ein Fiebertraum von einem Film: Robert Schwentkes „Seneca“ ist eine | |
> Abrechnung mit Intellektuellen, die sich in den Dienst von Despoten | |
> stellen. | |
Bild: Statius (Samuel Finzi) und Seneca (John Malkovich) | |
Es erinnert an die bekannten Worte „Et tu, Brute?“ nach Shakespeare, wenn | |
Robert Schwentke seinen übel zugerichteten Titelhelden „Hast du mich nun | |
auch im Stich gelassen?“ in die beängstigende Leere fragen lässt. Der | |
Fragensteller heißt jedoch nicht Caesar, sondern Seneca (John Malkovich). | |
Er erschrickt auch nicht, wie es der römische Kaiser beim Anblick seiner | |
Mörder sein soll, als er unter ihnen mit Brutus einen geliebten Freund | |
erkannte. | |
Im Gegenteil: Was Seneca erschüttert, ist, dass sich sein potenzieller | |
Mörder (Andrew Koji) soeben entfernte. Denn das bedeutet, dass er nun | |
endgültig allein ist, nachdem sich seine Gefolgschaft bereits von ihm | |
abgewandt hat. Dass es wirklich niemanden mehr gibt, der seine letzten | |
Worte vernehmen könnte. Und für einen Philosophen, jedenfalls für einen | |
derart geltungsbedürftigen wie ihn, ist das offenbar eine grausamere | |
Vorstellung, als Opfer eines bestialischen Meuchelmords zu werden. | |
Zumindest wenn es nach der Interpretation des [1][deutschen Regisseurs und | |
Drehbuchautors Robert Schwentke] geht, der eine hämisch-spottende | |
Destruktion des Denkers vornimmt, ihm sogar den Status als solchen in | |
Abrede stellen will. Bis sich in „Seneca“ diese finale Absicht in all ihrer | |
Klarheit präsentiert, ist ein Großteil der beinah zweistündigen Spielzeit | |
aber bereits verstrichen. Bis dahin wurden widersprüchliche Gebiete eines | |
erst gegen Ende zum Egozentrismus vereindeutigten Gemüts seziert. | |
Ungleich stärker noch sind die Kontraste zwischen den Stimmungen, die der | |
elfte Spielfilm des bislang vor allem für seichtere Spektakel („Die | |
Bestimmung“) bekannten Filmemachers durchläuft. Mit „Seneca“ hat Schwent… | |
einen Fiebertraum von einem Film geschaffen, der nicht nur mit der | |
Historizität des Stoffs bricht, wenn Figuren mit Sonnenbrille und E-Gitarre | |
gezeigt werden oder im Hintergrund plötzlich Graffiti oder Strommasten zu | |
sehen sind. Sondern auch mit Genregrenzen, teils in schwindelerregender | |
Sprunghaftigkeit. | |
## Kindskaiser wird zum Tyrannen | |
Es beginnt als pythoneske Screwball-Komödie, wenn der anscheinend von | |
hehren Idealen getriebene Seneca an der Geistesschwäche seines Zöglings | |
Nero (Tom Xander), der sich selbst einfache rhetorische Ratschläge nicht | |
merken kann, verzweifelt. So wie sich der Kindkaiser sukzessive zu dem | |
Tyrannen entwickelt, als der er in die Geschichte eingeht, verdunkelt sich | |
allerdings auch der Blick auf den Titelhelden. | |
Mehr über die neue Machtlosigkeit über Nero denn die verheerenden Zustände | |
des in Armut und Gewalt versinkenden Roms erzürnt, führt er bittere | |
Bühnenstücke für die gelangweilte Elite des Reichs (darunter viele deutsche | |
Schauspieler, wie Louis Hofmann und Annika Meier) auf. | |
Sobald sich der Plot der modernen Interpretation von Senecas blutrünstiger | |
Tragödie „Thyestes“ zuwendet, zeigt „Seneca“ plötzlich Anwandlungen e… | |
düster-makabren Horrordramas – nur um dann erneut in das Komödiantische, | |
sogar in körperlichen Slapstick zu verfallen. Ausgerechnet wenn dem | |
Protagonisten im Beisein ebenjener „High Snobiety“ die Nachricht seines | |
Todesurteils überbracht wird. | |
Nero, provoziert von besagtem Theater und entnervt von den Ratschlägen | |
seines einstigen Mentors, lässt ihm die unbarmherzige Wahl: die Nacht | |
nutzen, um sich selbst zu richten, oder eine grausame Hinrichtung bei | |
Morgengrauen. Um an das Vermächtnis des großen Sokrates anzuknüpfen, | |
entscheidet sich Seneca bekanntermaßen für die erste Variante. | |
## Das Schwatzen des Seneca | |
Doch hier will die Sache nicht recht funktionieren. Wohl eher zu stolz denn | |
zu stoisch ist Seneca, als dass sich sein Körper einfach so dem Tod | |
übereignen ließe. Eine mal befremdliche, mal urkomische Tour de Force durch | |
die antiken Tötungstechniken beginnt. | |
Und doch ist es die Fortsetzung der obigen Schlüsselsequenz, die von diesem | |
Film bleibt, weil in ihr der Hohn auf die Spitze getrieben wird: Um die | |
Profilierungssucht seines Protagonisten zu unterstreichen, lässt Schwentke | |
ihn ohne Zuhörer weitersprechen. Oder besser: schwatzen. Von | |
Lampen-Metaphern etwa, die ähnlich wie wir Menschen angezündet und nach | |
viel zu kurzer Zeit wieder ausgelöscht würden. | |
Bis aus dem wohlfeilen Redeschwall endgültig ein Fächer ohnmächtiger Worte | |
wird. In einem letzten Schritt verwehrt ihm das Skript, an dem außerdem | |
Matthew Wilder mitarbeitete, selbst das Sterben als Stoiker. Anders als es | |
die von Seneca vertretene Lehre vorsieht, blickt er dem Tod nicht gelassen | |
entgegen. In einer verstörenden Szene nähert sich die lauernde Kamera von | |
Benoît Debie ([2][„Vortex“), der hier vereinzelt ebenso überraschende | |
Einstellungen hervorbringt wie in den Kooperationen mit Regie-Provokateur | |
Gaspar Noé], seinem Gesicht. | |
Das Bild dreht sich allmählich, bis das Antlitz des auf dem nasskalten | |
Steinboden liegenden Seneca aufrecht auf der Leinwand zu sehen ist. So, als | |
wäre auch er gegen Ende seines Lebens das erste Mal aufrecht, wenn er von | |
Angst stammelt, nach seiner Mutter fragt, einen stillen Schrei ausstößt und | |
damit seine rhetorische Ritterrüstung ablegen muss. Ob es Zufall ist, dass | |
John Malkovich in diesem Augenblick gekonnt eine Fratze mimt, die an das | |
exaltierte Mienenspiel des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump erinnert? | |
Wohl kaum. | |
## Opportunismus in der zweiten Reihe | |
Mit dem Demagogen gleichsetzen will Schwentke den Denker, der wider die | |
Ideale seiner eigenen Schriften zu den reichsten Männern Roms zählte, zwar | |
nicht. Dieser Vergleich ist schon für das Riesenbaby Nero reserviert, der | |
vielsagend wiederholt als „Mr President“ adressiert wird. | |
Wohl aber ist „Seneca“ eine sardonische Parabel auf die Gefahr, am Ende zu | |
jenem zu werden, mit dem man sich umgibt. Mehr noch: eine mitleidlose | |
Abrechnung mit dem Opportunismus der „zweiten Reihe“, den Intellektuellen | |
hinter den Despoten, die sich in ihren Dienst stellen und so ihre Macht | |
ermöglichen und absichern. | |
Dass „Seneca“ damit zuerst an Gegenwärtigem interessiert ist, ist nicht zu | |
übersehen und verleiht einem stellenweise etwas drögen Plot eine gewisse | |
Relevanz. Ob es dafür aber das quälende Ausmaß an Zynismus gebraucht hätte? | |
Ironischerweise nähert sich der Film bei aller Brillanz so ebenfalls dem | |
an, womit er sich umgibt: dem stumpf Gewaltsamen und der blasierten | |
Selbstgefälligkeit, die er zu verurteilen sucht. | |
28 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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