# taz.de -- Filmfestspiele von Carthage: Homosexualität und neue Väter | |
> Die Filmfestspiele von Carthage erzählen Geschichten von der anderen | |
> Seiten des Mittelmeers. Nahaufnahmen von Menschen in disparaten | |
> Gesellschaften. | |
Bild: Einst Diktator-Protzbau, heute Schauplatz des Filmfestivals in Carthage: … | |
„Wir verstehen uns als ein Filmfest des Südens, des arabisch-afrikanischen | |
Kinos“, sagt Nejib Ayed, der Generalsekretär der Filmfestspiele von | |
Carthage, Journées Cinématographiques de Carthage (JCC), bei der | |
Eröffnungsveranstaltung auf dem roten Teppich. Das JCC ist das älteste | |
Filmfestival der arabisch-afrikanischen Welt. Es begann 1966 als | |
progressive Bewegung des postkolonialen Südens. Es engagiert sich für | |
Diversität, für Entwicklung, Demokratie und die Beziehung zum übrigen | |
afrikanischen Kontinent und den arabischen Ländern. | |
1963 war der Gründer des Festivals, Tahar Cheriaa, zu den Filmfestspielen | |
in Berlin eingeladen. Damals war ein ägyptischer Film im offiziellen | |
Wettbewerb. Tahar Cheriaa ging am nächsten Tag zur Pressekonferenz mit dem | |
Filmteam. Außer ihm war niemand da. Er war schockiert. So hat er 1966 mit | |
Freunden, die damals mit ihm im tunesischen Cine-Club aktiv waren, das | |
Filmfestival von Carthage gegründet. Eine neue Plattform für die andere | |
Seite des Mittelmeers. | |
Vom 3. bis 10. November wurden in Tunis 203 Filme aus 47 Ländern gezeigt. | |
44 Filme im offiziellen Wettbewerb. Sie kommen aus Algerien, Marokko, | |
Syrien, Irak, Ägypten, Jordanien, Madagaskar, Libanon, Ruanda, Kenia, | |
Burkina Faso, Südafrika, Kamerun, Senegal, Kongo – aus Ländern, die sonst | |
kaum auf der Bildfläche erscheinen. Die Filme und Dokumentationen sind | |
Boten des guten Geschmacks, des engagierten sozialen und politischen Films, | |
der aktuelle Themen aufgreift. Dieses Jahr waren es vor allem die Themen | |
Terrorismus, Migration, emigrierte Väter, Abgehängtsein, Liebe. | |
Die Cité de la Culture ist ein repräsentative, neuer Protzbau nahe dem | |
Zentrum von Tunis. Aber er wäre ein großartiger Ort für Kultur, würde es | |
nicht völlig an lauschigen Nischen, Cafés und Bänken mangeln. Seit März | |
dieses Jahres ist hier die tunesische Cinemathek untergebracht, die neben | |
Archivierung und Restaurierung von Filmen auch über Kinosäle verfügt. | |
## Sensible Männerfiguren | |
In den sechs Sälen dieses neuen Kulturzentrums laufen die Filme des | |
Wettbewerbs. Man kann diese aber auch in den in die Jahre gekommenen Sälen | |
an der Avenue Habib Bourguiba, mitten im Zentrum sehen. Lange Schlangen, | |
gute Stimmung vor dem „Colisée“. Der alte Kinosaal mit seinen verblichenen | |
grünen Plüschsesseln ist bis zum letzten Platz ausverkauft. Das Festival | |
ist beliebt, populär. Vor allem junge TunesierInnen drängen in die Säle. | |
Sie finden sich wieder in den Filmen von vielen jungen Produzenten und | |
Regisseuren, in den zahlreichen aktuellen Dokumentarfilmen. | |
„Amal“ von Mohamed Siam gewann die Goldene Tanit der Dokumentarfilme. Sechs | |
Jahre wurde die junge Ägypterin Amal seit dem Arabischen Frühling 2011 | |
begleitet. Das Porträt dieser jungen, sprühenden Frau zwischen Aufbruch, | |
Rebellion, Enttäuschung und Anpassung in den Fängen einer | |
Männergesellschaft zeigt die Unwägbarkeiten des Lebens, die | |
gesellschaftlichen Fallstricke. | |
Die Silberne Tanit in der Kategorie Dokumentarfilm erforscht die zerrissene | |
Familiengeschichte eines palästinensischen Vaters, der im spanischen | |
Bürgerkrieg gegen Franco kämpft. Überhaupt sind die Dokumentarfilme das | |
überzeugende Genre des Festivals. In „We could be heroes“ begleitet Hind | |
Bensari zwei paralympische marokkanische Kugelstoßer, die zwar im Moment | |
ihres Sieges kurze Anerkennung erfahren, ansonsten aber erfolglos um | |
Stadien und Unterstützung kämpfen müssen. | |
## Ein lesbischer Kuss polarisiert | |
Der Senegalese Alassane Diago sucht in „Rencontré mon père“ seinen Vater, | |
der nach Europa emigrierte, ohne sich jemals wieder bei seiner Familie, | |
seinen Kindern zu melden. In den Untiefen eines prekären Viertels von Tunis | |
führt der eindrucksvolle Dokumentarfilm „Subutex“: Fünf Jahre begleitete | |
Nasreddine Shili ein homosexuelles Paar. Sie leben in einem verlassenen | |
Hammam, abgehängt in einer morbiden, hässlichen Welt, einer Welt voller | |
Drogen, wie dem Schmerzmittel Subutex. Hier regiert die Gewalt. Es sind | |
berührende Nahaufnahmen von Menschen in disparaten Gesellschaften. | |
Der Film als Dialog mit dem Publikum. Hier gelingt er. Beim kenianischen | |
Spielfilm „Rafiki“ von Wanuri Kahiu, der eine lesbische Liebe zeigt, | |
verlässt ein kleiner Teil des Publikums den Raum beim ersten Kuss | |
demonstrativ; der weitaus größere Teil aber jubelt. Die Reaktionen des | |
Publikums sind immer direkt. | |
Gleich drei tunesische Spielfilme des Wettbewerbs – „Regarde-moi“ von Nej… | |
Belkadhi, „Fatwa“ von Mahmoud Ben Mahmoud und „Weldi“ von Mohamed Ben A… | |
zeigen eine neue Vaterfigur. Keine selbstherrlichen, unfehlbaren | |
Patriarchen. Es sind sensible, gebrochene, suchende Männerfiguren, die in | |
allen drei Filmen im Zentrum stehen. Der Vater in „Fatwa“, lebt in | |
Frankreich und kommt zur Beerdigung seines verunglückten Sohnes nach Tunis. | |
Nach und nach erfährt er, dass sein Sohn mit den radikalen Islamisten | |
sympathisierte. Der Schauspieler Ahmed Hafiane bekam für die Rolle des | |
Vaters die Auszeichnung als bester Schauspieler. Vorbei die Zeit der | |
männlichen Charaktermasken? Zumindest im tunesischen Film. | |
11 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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