# taz.de -- Deutschland für Fachkräfte unattraktiv: „Oh, wow“ | |
> Nicht nur Finanzminister Lindner musste es kürzlich erleben: Für die viel | |
> beschworenen ausländischen Fachkräfte ist Deutschland kein begehrtes | |
> Ziel. | |
Bild: Sind leider nicht alle so nett und adrett in Deutschland: Christian Linde… | |
Vor Kurzem stand Finanzminister [1][Christian Lindner von der FDP bei einem | |
Auslandsbesuch in Ghana in einem Hörsaal]. Luftig in ein weißes Hemd | |
gekleidet, hielt er in der Hauptstadt Accra einen seiner TED-Talks, ganz | |
locker in den Reihen zwischen den Studierenden. Jemand filmte die Szene. | |
Lindner fragt in den Saal, wer von den Anwesenden sich vorstellen könne, | |
nach Deutschland zum Arbeiten zu migrieren. Kurze Stille. Null Hände heben | |
sich. Hinter der Kamera flüstert jemand: „Oh, wow“, es folgt ein verlegenes | |
„Okay!“ vom Finanzminister. Dann gehen hier und da ein paar wenige Hände | |
zögerlich doch noch hoch – eher aus Mitleid. Christian Lindner rettet sich | |
mit dem Witz, dass er die Telefonnummern und E-Mail-Adressen der | |
skeptischen Freiwilligen höchstpersönlich einsammeln werde. Alle lachen. | |
Oft heißt es ja sinngemäß: Ganz Afrika wolle zu uns nach Deutschland | |
kommen. Eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung, die man an sich kritisch | |
lesen sollte, gibt nun weitere Anhaltspunkte, warum das nicht so ist. Unter | |
den OECD-Ländern ist Deutschland demnach beim Ansehen unter ausländischen | |
Fachkräften, Unternehmen und Start-ups von Platz 12 auf Platz 15 | |
zurückgefallen. Hauptgrund dafür ist, dass andere Länder schlicht viel | |
attraktivere Arbeits- und Lebensbedingungen bieten: Norwegen, Kanada oder | |
Neuseeland zum Beispiel. | |
In der Studie wurden mehrere Faktoren beachtet: Aufstiegschancen, Höhe des | |
Einkommens und der Steuern, Möglichkeiten für Familienmitglieder oder die | |
Visa-Vergabe. Auf all diesen Feldern bietet Deutschland kein gutes Bild. | |
Schaut man zum Beispiel in die Portale für die Terminvergabe für deutsche | |
Visa-Anträge, herrscht gähnende Leere: Oft sind keine Termine weit und | |
breit zu sehen. Fürs Auswandern nach Deutschland braucht man Geduld, | |
Kontakte, viel Geld und noch mehr Willen. Den bringen aber viele gut | |
ausgebildete Menschen in Sachen Deutschland nicht automatisch mit. | |
Antragsteller*innen beschweren sich über eine besonders ausgeprägte | |
Bürokratie und ineffiziente Verfahren. Dabei wird ihnen von Finanzministern | |
und Werbebroschüren gesagt, dass Deutschland sie dringend als Fachkräfte | |
brauche. Diese Diskrepanz zwischen Diskurs und Realität kommt bei den | |
Fachkräften selbst offensichtlich nicht gut an. | |
## Arg abgerutscht | |
Beim Ansehen unter Unternehmen und Start-ups ist Deutschland sogar laut | |
Studie von Platz 6 auf Platz 13 abgerutscht. Hauptgründe hier: die | |
schleppende Digitalisierung mit riesigen Funklöchern und weiter heiß | |
laufenden Faxgeräten in den Ämtern, ein zu hohes Mindestkapital bei | |
Neugründungen und eine „geringe Akzeptanz von Zuwanderer*innen“ in der | |
deutschen Gesellschaft. Für den letzten Punkt gibt es ein akkurateres Wort: | |
Rassismus. Den gibt es auch in Norwegen, Kanada oder Neuseeland, nur hat | |
sich herumgesprochen, dass es in Deutschland besonders bedrückend sei. | |
Spricht man zum Beispiel mit bei der deutschen Wirtschaft begehrten | |
Studierenden, Forscher*innen und Fachkräften an deutschen | |
Hochschulstandorten sind viele Neuankömmlinge wenig begeistert von der | |
gesellschaftlichen Atmosphäre. In Städten wie Dresden oder Tübingen | |
bekommen die neuen Bürger*innen schnell mit, dass dort politisch | |
betrachtet eine rassistische Normalität herrscht. Einige entscheiden sich | |
deswegen bewusst, den Standort zu wechseln. Auch weil hochqualifizierte | |
Fachkräfte sehr mobil sind. Oft genug wandern sie weiter in ein anderes | |
Land. Gut ausgebildete Fachkräfte folgen Entwicklungschancen auf dem | |
eigenen Feld und höheren Löhnen. Wenn es dann noch an Anerkennung und | |
basaler Menschlichkeit im Umgang hapert, dann schreckt das eben viele | |
Menschen ab. | |
In Deutschland spielen daneben bestimmt auch andere Faktoren eine | |
maßgebliche Rolle, die in der Studie nicht vordergründig auftauchen: | |
Deutschland ist ein sehr deutschsprachiges Land. Menschen mit hohen | |
Bildungsabschlüssen haben oft keine Lust und noch weniger Zeit, sich in | |
[2][das Mysterium von „der, die, das“] einzuarbeiten. Zwar haben sich in | |
Großstädten wie Berlin oder Frankfurt Räume entwickelt, in denen Englisch | |
die Arbeitssprache ist, dennoch sind ausländische Fachkräfte oft genug mit | |
deutschen Führungskräften konfrontiert, die noch nicht mal Deutsch gut | |
sprechen und teilweise schlechter ausgebildet und qualifiziert sind als die | |
Neuen am Konferenztisch. Dazu kommen konkrete Probleme bei der | |
Wohnungssuche oder bei der Kinderbetreuung, für die man nicht extra nach | |
Deutschland einwandern muss, um zu wissen, wie schlimm es ist. | |
Die geringe Attraktivität des Standorts Deutschland liegt also am | |
international ramponierten Image. [3][Die spezielle deutsche | |
Willkommenskultur] spricht sich herum, und Menschen wenden sich mit einem | |
zusätzlichen Blick auf die konkreten Bedingungen von Deutschland ab. Das | |
wiederum hängt daran, dass sich Menschen mit relativ wenig Aufwand darüber | |
informieren können, wie eine Mehrheitsgesellschaft so tickt. Und viele | |
Yelp-Reviews für Deutschland weisen wenig Sterne auf. | |
## Alles schön vermischen | |
Andauernd werden in Migrationsdebatten hierzulande zum Beispiel viele Dinge | |
vermischt. So wird das Thema Flucht gegen den Fachkräftemangel ausgespielt, | |
wenn es heißt, dass Deutschland nur qualifizierte Migration brauche. Viele | |
bürgerliche Kräfte fordern ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild: Mit | |
Doktortitel darf man dann kommen, alle anderen nicht. Dass die | |
Arbeitsmigration mit der Flucht Schutzsuchender nicht viel zu tun hat, | |
liegt auf der Hand, doch zeigt der verallgemeinernde Diskurs vielen | |
Menschen auf der Welt auf, dass man hier eben allgemein nicht willkommen | |
ist, sich nicht entfalten, geschweige denn wohl und sicher fühlen kann. | |
Wenn Menschen das Privileg haben, sich zu entscheiden, wohin es geht, | |
entscheiden sie sich für Norwegen, Kanada oder Neuseeland oder bleiben | |
einfach in ihren Ursprungsländern. Sodass sich Finanzminister Christian | |
Lindner die wenigen Kontaktdaten der Ausreisewilligen sehr leicht einprägen | |
kann. | |
11 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=SabzfswWQTM | |
[2] /Zuwanderung-und-Spracherwerb/!5897135 | |
[3] /30-Jahre-nach-Brandanschlag-in-Moelln/!5893471 | |
## AUTOREN | |
Mohamed Amjahid | |
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