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# taz.de -- Proteste in Lützerath und anderswo: Der Ritterschlag kommt später
> Der Kampf um die Deutungshoheit über politische Proteste ist kein
> Nebenschauplatz der Geschichte. Er ist der Kern der Sache selbst.
Bild: Viel Rauch: Proteste gegen die Räumung des Dorfes Lützerath für den Br…
Wird es am Ende ziviler Ungehorsam gewesen sein? Sorry, Futur Zwei klingt
immer etwas gespreizt. Aber die Frage muss so gestellt werden. Denn noch
ist nicht abschließend geklärt, wofür Lützerath steht. Ob der Widerstand
gegen die Räumung und Ausbeutung der Braunkohlevorkommen von Lützerath, ob
die Straßenblockaden der Letzten Generation oder ihre Schein-Anschläge auf
Gemälde als [1][ziviler Ungehorsam legitimiert] werden oder als [2][blöde
bis gefährlich-kriminelle Störaktionen abgewertet], entscheidet sich erst
im Laufe eines Deutungs- und Aushandlungsprozesses.
Der nimmt gerade erst Fahrt auf. Gerichte werden zu ihm zwar beitragen,
können ihn aber ebenso wenig beenden wie die Bürger*innen von Keyenberg,
denen die zugereisten Aktivist*innen mittlerweile lästig scheinen: Wo
die Grenzen der Zivilität verlaufen, das ist keine juristische Frage,
sondern eben eine an die gesamte Gesellschaft: Die befindet sich in einer
Art hermeneutischem Bürgerkrieg, einem mit Worten ausgetragenen Kampf um
die Deutung des Protests, seiner Taten und seiner Aktionsformen: Wie
angemessen sind sie? Wie viel Gewalt wird sich ihnen rückblickend
zuschreiben lassen?
Dieser Kampf um die Interpretation wird mit schmutzigen Tricks geführt,
Pseudoargumenten und Infamie. Er ist dabei aber kein verzichtbares
Anhängsel oder Begleitphänomen. Er ist die Sache selbst: Das geballte,
polyvalente Zeichen des Protests, das Kommunikation sein soll, übersetzt
sich so erst in Rede und Gegenrede, kurz: das, was eigentlich Politik
ausmacht.
Zu diesem Kampf gehört, dass die Gegner des Protests und seiner Anliegen
ihn bagatellisieren – Lützerath sei das falsche Symbol, hat der [3][Vater
des Vaterlandes Robert Habeck (Grüne)] die jungen Leute belehrt; ein
Gratissatz, der immer stimmt, solange ein Symbol nicht mit dem
zusammenfällt, das es symbolisiert – so wie es bei [4][Rosa Parks’
Weigerung] der Fall war, den Platz im Bus für einen Weißen freizumachen,
und die so durch das direkte Übertreten der Rassentrennung gegen die
Rassentrennung protestierte.
Auch gehört zum Kampf, die Protestierenden zu entzweien, gerne entlang
überkommener Gegensätze, wie dem Unterschied von Stadt und Land: Sehr
wirksam hat die Erzählung vom akademischen Krawalltourismus die Tatsache
überschrieben, dass die [5][Antiatomproteste von Wyhl bis Brokdorf] ebenso
wie jetzt die [6][Lützerath-Blockaden] Akte gelebter Solidarität zwischen
linken Bürgerkindern und bäuerlicher Landbevölkerung gewesen sind, deren
Einsprüche mangels Masse so übersehbar und überhörbar geblieben waren.
## Ungutes Gefühl des Verrats
Manchen, und das ist völlig legitim, reicht dann eine Abfindung oder ein
Kompromiss, der die eigenen Belange wahrt, und schon beginnt der Widerstand
zu nerven; die Präsenz der Besetzer zur Last zu werden; sie fangen an, voll
scheiße zu sein. Vielleicht auch, weil da so etwas lauert oder lastet wie
ein ungutes Gefühl des Verrats.
Vor allem aber geht es in diesem Kampf darum, ob sich dieser Protest
diskreditieren lässt. Wenn er zwar das Richtige, aber an der völlig
falschen Stelle fordert, dann erschüttert das seine moralische
Legitimation, wenn der Zusammenschluss mit den Betroffenen bröckelt, die
moralische Integrität – und beides zusammen verschiebt die Schwelle, ab
wann die Aktion als Gewalt gelten wird, sprich: ob sie unberechtigt war
oder als ziviler Ungehorsam geadelt wird.
Denn ziviler Ungehorsam wird in der Regel – am häufigsten mit [7][Jürgen
Habermas’ Fortschreibung der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls] – als
notwendig gewaltfrei definiert: Klingt theoretisch prima, erweist sich aber
als ausgesprochen schwammiges Kriterium angesichts der Ahnengalerie des
Protests. Denn die Entscheidung darüber, ob es gewaltsam war, ist eine, die
dem Ereignis nachträglich zuwächst. Bis heute am schönsten hat die
Formbarkeit dieses Grenzverlaufs Anfang der 1980er Jahre Friedrich
Zimmermann (CSU) zum Ausdruck gebracht, ein Innenminister der BRD. Sein
Spruch „gewaltfreier Widerstand ist Gewalt“ lässt sich als ein
meisterhaftes Concetto beschreiben, paradoxal wie aus der Blütezeit des
spanischen Barock.
Das Gegenstück war der nonverbale Protest, den ein paar Jahre vorher
[8][Beate Klarsfeld ins Gesicht des Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger]
(NSDAP und CDU) formulierte: Ist jede Ohrfeige ein Gewaltakt? Wie sind die
autoaggressiven Formen des zivilen Widerstands zu rubrizieren, [9][Gandhis
Hungerstreik], die Selbstverbrennung des Mönchs [10][Thich Quang Duc] vor
60 Jahren in Saigon oder der Dichterin [11][Semra Ertan 1982 in Hamburg],
ein Fanal gegen grassierenden Rassismus?
Natürlich gibt es Gewalt, physische Gewalt. Und natürlich ist sie
unerträglich. Aber ob sie stattgefunden hat, erweist sich eben nicht als
entscheidend für die Bewertung des Protests als zivil. Es ist eher eine
Frage des Erfolgs, also ob seine Ziele verwirklicht und mehrheitlich als
gerecht anerkannt worden sind. So fokussiert zumal in Deutschland die
Diskussion um [12][Malcolm X] allein auf dessen vermeintlichen Aufruf zu
Gewalt – der genau genommen nur das Recht auf Notwehr gegen brutale
Übergriffe einer rassistischen und vom Ku-Klux-Klan unterwanderten Polizei
vertritt. Seine eher wandel- als greifbare politische Doktrin wird darunter
verborgen und völlig vergessen, dass ihm keine Akte politischer Gewalt
zuzuordnen sind.
## Phosphorbomben per Post
Umgekehrt wird als Beispiel des zivilen Ungehorsams oft und gern die
britische [13][Suffragetten-Bewegung] erwähnt. Die war aber ab 1905 nicht
weniger militant als die frühe Baader-Meinhof-Bande in Deutschland – und ab
spätestens 1912 deutlich produktiver, was Gewalt angeht: Dass bei ihren
rund 100 Sprengstoffanschlägen in dieser Zeit niemand gestorben ist, grenzt
an ein Wunder. Der Tod von Hunderten war bei einzelnen durchaus eingeplant.
Nur wird das ebenso selten miterzählt wie die schweren Verbrennungen, die
diverse Postboten durch Phosphorbriefbomben erlitten haben.
Das gerechte Ziel, der Erfolg heiligt nicht die Mittel. Aber der Triumph
des Protests überzieht ihn mit dem Glanz der fortschreitenden Zivilität. So
gesehen muss man dringend hoffen, dass die Klimaproteste ziviler Ungehorsam
sind und waren. Denn sonst sieht’s düster aus.
27 Feb 2023
## LINKS
[1] /Ziviler-Ungehorsam-bei-Klimaprotesten/!5772864
[2] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/klimaproteste-gewalt-hat-in-der-…
[3] https://www.glanzundelend.de/Artikel/artikelalt/habeck.htm
[4] /Konfliktforscher-ueber-Proteste-im-OePNV/!5784343
[5] /Anti-Atom-Protest-der-70er-und-80er-Jahre/!5096984
[6] /Klimaproteste-in-NRW/!5909682
[7] http://habermas-rawls.blogspot.com/
[8] /Ausstellung-ueber-Beate-Klarsfeld/!5491290
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Mohandas_Karamchand_Gandhi
[10] /Kommentar-Selbstverbrennung-in-Vietnam/!5087712
[11] /Todestag-von-Semra-Ertan/!5774155
[12] /Zum-50-Todestag-von-Malcolm-X/!5019414
[13] /Suffragette-Emily-Wilding-Davison/!5066187
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
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