| # taz.de -- Gute Klima-Kommunikation: Zuspitzen oder verharmlosen? | |
| > In der Klimaforschung gibt es oft Unsicherheiten. Wie können Medien diese | |
| > kommunizieren, ohne gleichzeitig an Glaubwürdigkeit zu verlieren? | |
| Bild: Ein Hubschrauber kreist über einem Waldbrand bei Löscharbeiten in Lytto… | |
| Wäre die [1][Hitzewelle 2021 in Kanada], infolge derer Hunderte Menschen | |
| starben, ohne den Klimawandel tatsächlich „nahezu unmöglich“ gewesen, wie | |
| damals viele Medien schrieben? Der Neurowissenschaftler Kris de Meyer ist | |
| weit davon entfernt, die Klimakrise zu verharmlosen, und trotzdem anderer | |
| Meinung. „Diese Formulierung wirkt übertrieben und lässt zu viel | |
| Interpretationsspielraum“, sagt der [2][Direktor der Climate Action Unit], | |
| einer Fachgruppe für Wissenschaftskommunikation am Londoner King’s College. | |
| „Nahezu unmöglich“: Diese beiden kleinen Wörter verdeutlichen das Dilemma | |
| der Klimakommunikation. Diese muss die Dringlichkeit der Situation | |
| vermitteln, doch sie [3][darf dabei nicht übertreiben]. Denn dann wird sie | |
| unglaubwürdig, und das wäre fatal in einer Zeit, in der | |
| Klima-Desinformation boomt. | |
| Deshalb müssen Forschende und Journalist:innen ständig abwägen, wie | |
| stark sie verkürzen und vereinfachen. Zugespitzte Formulierungen vermitteln | |
| die Dringlichkeit, erfordern aber ein gewisses Vertrauen der Leser:innen. | |
| Problematisch wird es, wenn wichtige Details ignoriert werden. Wer aber zu | |
| viele Wenn und Aber verwendet, verharmlost die Klimakrise, im schlimmsten | |
| Fall ungewollt. | |
| Der [4][Klimaforscher Douglas Maraun] teilt die Kritik an der Formulierung | |
| „nahezu unmöglich“ in Bezug auf die kanadische Hitzewelle: „Die Leserinn… | |
| und Leser denken, dass es die Hitzewelle ohne den Klimawandel gar nicht | |
| gegeben hätte“, sagt der Wissenschaftler, der zu den Leitautoren des | |
| aktuellen Berichts des Weltklimarats IPCC gehört. Hitzewellen werden meist | |
| durch blockierende Wetterlagen ausgelöst, die ein Hochdruckgebiet am | |
| Weiterziehen hindern. Dadurch bleibt die Hitze mehrere Tage bis Wochen über | |
| einer Region stehen. | |
| Besonders ausgeprägt war dieses Phänomen [5][beispielsweise im Sommer | |
| 2003], in dem europaweit über 70.000 Menschen an der Hitze starben – und im | |
| Juni 2021 über Kanada. An drei aufeinander folgenden Tagen wurden damals | |
| Hitzerekorde um mehrere Grad gebrochen, [6][die Ortschaft Lytton wurde von | |
| einer Feuerwalze vernichtet]. Auch in Deutschland sind Hitzewellen ein | |
| ernsthaftes Problem: Sie verursachen wesentlich mehr Todesfälle, als es | |
| Verkehrstote gibt. | |
| Klar ist: Durch den Klimawandel sind Hitzewellen häufiger und um mehr als 1 | |
| Grad stärker geworden. Mit jedem Grad mehr [7][schlafen wir schlechter], | |
| werden anfälliger für Hitzschlag, [8][Überhitzung und Organversagen] und | |
| [9][sogar gewaltbereiter]. Aber auch hier gibt es wieder ein Aber: | |
| Besonders bei intensiven, länger anhaltenden Hitzewellen, wie etwa 2003 | |
| oder 2021, sei es komplizierter, erklärt Douglas Maraun: „Diese werden nur | |
| dann häufiger, wenn es vermehrt zu blockierenden Wetterlagen kommt“, sagt | |
| er. Ob dies durch den Klimawandel häufiger oder seltener geschieht, lasse | |
| sich mit aktuellen Klimamodellen aber noch nicht eindeutig simulieren. | |
| ## Zwei Grad heißer | |
| Wie hat der Klimawandel die Hitzewelle in Kanada nun beeinflusst? „Die | |
| Thermometer in Lytton hätten ohne diesen etwa 47,6 statt 49,6 Grad | |
| angezeigt“, sagt Maraun. Einen Hitzerekord hätte es also auch ohne | |
| Klimawandel gegeben. Dass es um eine Differenz von zwei Grad geht, stand | |
| zwar auch [10][in der Studie der World Weather Attribution] (WWA), auf die | |
| sich damals die meisten Medienberichte bezogen. Die meisten Artikel, auch | |
| in der taz, erwähnten diese Tatsache allerdings nicht. | |
| Stattdessen stürzten sich viele Medien darauf, dass [11][die Hitzewelle | |
| durch den Klimawandel 150-mal wahrscheinlicher wurde]. Tatsächlich sagt | |
| diese Zahl aber nicht, dass Hitzewellen allgemein häufiger werden, sondern | |
| bezieht sich darauf, wie wahrscheinlich dieselbe Hitzewelle mit | |
| beziehungsweise ohne Klimawandel wäre. Konkret: Ohne die menschengemachte | |
| Erderhitzung wären die knapp 50 Grad im kanadischen Lytton nur alle | |
| 150.000 Jahre zu erwarten. Mit dem Klimawandel werden sie zu einem | |
| Jahrtausendereignis. | |
| Die [12][Wissenschaftlerin Mariam Zachariah] verteidigt die Formulierung | |
| „nahezu unmöglich“ in Bezug auf die kanadische Hitzewelle. Sie ist | |
| Forschungsassistentin am Imperial College in London und seit Anfang 2022 | |
| Mitglied der WWA, die jährlich rund ein Dutzend Attributionsstudien | |
| durchführt. Die sogenannte Attributionsforschung ist eine noch junge | |
| Disziplin, die den Einfluss des Klimawandels auf Extremwetter wie | |
| Starkregen oder Hitzewellen untersucht. | |
| Die Ergebnisse liegen binnen Wochen auf dem Tisch und werden vorab auf | |
| Pressekonferenzen vorgestellt. „Um Missverständnissen vorzubeugen“, sagt | |
| Zachariah. | |
| „Alle 150.000 Jahre bedeuten eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 150.000 in | |
| jedem Jahr“, sagt die Wissenschaftlerin. „Wenn man das übersetzt, erhält | |
| man: nahezu unmöglich.“ Das bringe die Botschaft auf den Punkt: „Ein | |
| solches Ereignis wäre in einer Welt ohne Klimawandel nicht möglich | |
| gewesen.“ | |
| Immer mehr Journalist:innen beziehen sich in ihrer Arbeit auf die | |
| Ergebnisse der Attributionsforschung. So richtig bekannt wurde diese, als | |
| das Fachportal Carbon Brief im Sommer vergangenen Jahres eine | |
| [13][Querschnittsanalyse von über 500 Attributionsstudien] | |
| veröffentlichte. Viele Medien zitieren daraus und verwenden dabei meist den | |
| umstrittenen Wortlaut „nahezu unmöglich“. [14][In der taz etwa] liest man | |
| in den ersten Zeilen: „Mehrere Ereignisse wären ohne den Klimawandel | |
| unmöglich.“ | |
| ## Überspitzt oder heruntergespielt? | |
| Klar ist, dass es sich dabei um eine Vereinfachung handelt. Ähnlich sei es | |
| auch bei überspitzten Schlagzeilen wie „Wir haben zwölf Jahre Zeit, um den | |
| Planeten zu retten“, kritisiert Kris de Meyer. Hier hätten viele Medien ein | |
| [15][Statement des Weltklimarats IPCC] falsch verkürzt, so der | |
| Kommunikationsexperte. Dies sei von einigen jungen Leuten so | |
| interpretiert worden, als würden alle sterben, wenn die Erderhitzung nicht | |
| in den nächsten zwölf Jahren gestoppt werde. | |
| Immer wieder sieht man solche populistischen Zuspitzungen, etwa auf der | |
| Titelseite von Österreichs reichweitenstärkster Tageszeitung, der Kronen | |
| Zeitung: „2023 letzte Chance, um die Welt zu retten“, heißt es dort mit | |
| Blick auf die Klimakrise. [16][Das ist übertrieben.] Auch die Jahre und | |
| Jahrzehnte danach zählen. | |
| Doch mit jedem verstrichenen Jahr wird die Chance auf ein lebenswertes | |
| Klima kleiner. Medien müssen also auch aufpassen, [17][dass sie die | |
| Gefahren der Klimakrise nicht herunterspielen]. Dabei ist mehr aber nicht | |
| immer besser, vor allem, wenn es um Zahlen geht. Kris de Meyer sagt: „95 | |
| Prozent der Vorgänge in unserem Gehirn sind intuitiv. Nur ein paar Prozent | |
| sind analytisch.“ | |
| Deshalb tun wir uns so schwer, Statistiken richtig zu interpretieren. Dass | |
| ein Extremereignis einmal alle 150.000 Jahre, alle tausend oder alle | |
| hundert Jahre vorkommt, könne leicht missverstanden werden: „Wer einmal ein | |
| Jahrhundertereignis erlebt hat, denkt, er sei für die nächsten hundert | |
| Jahre sicher“, sagt de Meyer. | |
| Erhitzen wir die Erde weiter, verändert sich die Statistik erneut. Bei | |
| einer Erderwärmung von zwei Grad wäre die kanadische Hitzewelle bereits | |
| alle fünf bis zehn Jahre zu erwarten. Schon jetzt stehen wir bei 1,2 Grad, | |
| mit den aktuellen Maßnahmen steuern wir auf 2,8 Grad zu. Die Folgen dessen | |
| könne ein Etikett wie „nahezu unmöglich“ nicht greifbar machen, sagt de | |
| Meyer. | |
| Welche Möglichkeiten gibt es dann, den Zusammenhang von Klimawandel und | |
| Hitzewellen zu vermitteln? De Meyer schlägt einen Index vor, den | |
| Journalist:innen und Klimaforschende gemeinsam entwickelt sollten. | |
| Dieser müsse immer und immer wieder kommuniziert werden, etwa im | |
| Wetterbericht. | |
| Vorbild seien Warnstufen, wie es sie bereits bei Hurrikanen, Lawinen oder | |
| Waldbrandgefahr gibt. „Niedrige Zahlen mit höchstens einer Kommastelle | |
| sind leichter verständlich als hohe Zahlen“, so de Meyer. Dieser Index | |
| solle nicht nur zeigen, wie schlimm eine Hitzewelle ist, sondern auch, wie | |
| viel wahrscheinlicher sie durch den Klimawandel geworden ist. | |
| Ähnliches passiert [18][seit letztem Sommer in der spanischen Stadt | |
| Sevilla]. Dort werden Hitzewellen nach ihrer Stärke (von 1 bis 3) | |
| eingestuft und die gefährlichsten von ihnen mit Namen getauft: Zoe, Yago, | |
| Xenio waren die ersten unter ihnen. Bis 2030 soll das Projekt rund 500 | |
| Millionen Menschen in Städten wie Buenos Aires, New York oder Melbourne | |
| erreichen. | |
| Deutsche Städte sind bei dem Projekt aktuell nicht eingeplant. Hierzulande | |
| dürften nur den Wenigsten bewusst sein, dass im vergangenen Sommer | |
| [19][mehr als 10.000 Menschen durch Hitze gestorben sind]. Ein Hitze-Index | |
| wie in Sevilla könnte das ändern. Ein solcher wäre nichts anderes als eine | |
| Vereinfachung des Komplexen – aber eine, die Leben retten könnte. | |
| 1 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Rekordhitze-in-Kanada/!5783705 | |
| [2] https://www.kcl.ac.uk/people/kris-de-meyer | |
| [3] /Forscher-Philipp-Schroegel-ueber-Untergangsrhetorik/!5840372 | |
| [4] https://homepage.uni-graz.at/de/douglas.maraun/ | |
| [5] /Meteorologe-ueber-Temperaturrekorde/!5907199 | |
| [6] /Evakuierungen-nach-Hitzefeuer/!5783880 | |
| [7] /Studie-zu-Hitze-und-Gesundheit/!5859130 | |
| [8] /Entwicklung-des-Weltklimas/!5683794 | |
| [9] /Aggressionen-bei-Hitze/!5711104 | |
| [10] https://www.worldweatherattribution.org/western-north-american-extreme-hea… | |
| [11] /Extremtemperaturen-in-Nordamerika/!5784506 | |
| [12] https://www.imperial.ac.uk/people/m.zachariah | |
| [13] https://www.carbonbrief.org/mapped-how-climate-change-affects-extreme-weat… | |
| [14] /Metaanalyse-zu-Extremwetter-Studien/!5874223 | |
| [15] https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2020/07/SR1.5-SPM_de_barrierefrei.… | |
| [16] /Klimaforscher-ueber-Doomism/!5902230 | |
| [17] /Endzeitszenarien-in-Klimastudien/!5867790 | |
| [18] /Duerre-in-Spanien/!5865238 | |
| [19] /Klimaforscherin-ueber-Umgang-mit-Hitze/!5867028 | |
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| Lukas Bayer | |
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